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Die Diskussionen um Wege und Irrwege der Jugend kommen zwar nie ganz zur Ruhe, aber von Zeit zu Zeit erreichen sie doch einen gewissen Höhepunkt. Diese Höhepunkte sind deutlich daran zu erkennen, daß sich alle Befürchtungen, Verwirrungen, Urteile und Vorurteile gleichsam in einem Schlagwort verdichten, das die Öffentlichkeit gegenüber allen Regungen dieser Jugend sensibilisiert. Das hektische Fragen nach den „Halbstarken“ dürfte hinreichend beweisen, daß wir uns gegenwärtig wiederum in einer derartigen Situation befinden. Dabei ist es sicher mehr als ein Zufall, daß diese Höhepunkte immer dann einzutreten scheinen, wenn sich die Gesellschaft auf einem vermeintlich gesicherten Felde des „Erreichten“ einzurichten versucht. Man reagiert in einer derartigen Phase der Entwicklung mit besonderer Empfindlichkeit auf alle Zeichen, in denen sich eine Gefährdung der eigenen Situation ankündigen könnte; es ist die Zeit, in der aus Mücken nur allzu leicht Elefanten gemacht werden. Zur Gefährdung wird dann bereits jedes Verhalten, das vermeintlich oder tatsächlich anders ist als das eigene. Nun wird aber jede jüngere Generation in mehr oder minder großem Ausmaße neue Verhaltensformen entwickeln, die den strukturellen Bedingungen, unter denen sie aufwächst, angemessener sind als die entsprechenden Verhaltensmodelle der Erwachsenen. So ist denn auch keineswegs alles, was von dem in einer Zeit als „normal“ empfundenen Verhalten abweicht, krankhaft; es wird aber als krankhaft denunziert, sobald es den überkommenen Grundlagen zuwiderläuft, auf denen die Verhaltenssicherheit der Erwachsenen aufruht.
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Ein spektakuläres Schlagwort
Wenn die Vokabel „Halbstarke“ nämlich überhaupt einen eigenständigen Sinn hat, so muß das, worauf sie abzielt, in jenem ungesicherten Feld angesiedelt sein, das jenseits der Jugendkriminalität liegt. Mit groben Zurechnungen schießt man über den vergleichsweise winzigen Ausschnitt dieses Feldes hinaus, den man als Sphäre des „Halbstarken-Verhaltens“ ansprechen könnte. Dieses Verhalten ist in seinem Kern weder kriminell, noch asozial; es ist allerdings auch nicht in irgendeinem relevanten Sinne sozial. Um das eine oder andere sein zu können, fehlt es ihm schon an Dauer und Zielgerichtetheit. Was den „Halbstarken“ auszeichnet, ist die gleichsam eruptive Aktion um der Aktion willen. Daß aber der Begriff „Halbstarke“ heute gar nicht eine spezifische Problematik meint, sondern zu einem spektakulären Schlagwort in dem eingangs erwähnten Sinn geworden ist, beweist die Tatsache, daß man in der öffentlichen Diskussion mit den „Halbstarken“ nicht nur so heterogene Erscheinungen wie Kriminalität, Jazzfans und Cliquen-Krawalle verbindet, sondern ihnen auch gleicherweise Vierzehn- und Dreißigjährige zurechnet.
Die „Halbstarken“ sind weder dem Begriffe, noch der Sache nach neu; neu ist allein, daß die großstädtische Umwelt mit der Sache nicht mehr fertig zu werden scheint. Der Begriff „Halbstarke“ ist bereits etwa sechs Jahrzehnte alt. Um die Jahrhundertwende diente er dem Hamburger Bürgertum zur Bezeichnung der proletarischen Jugend. Er war also von Anfang an das Signum für einen Lebensbereich, der dem eigenen fremd, möglicherweise sogar feindlich war. Die Problematik der „Halbstarken“ aber gibt es wahrscheinlich schon solange, wie junge Menschen vor der Aufgabe stehen, in die vorgegebenen Normen einer Gesellschaft hineinzuwachsen. Die Formen jedoch, in denen sich die Jugend einer Zeit mit dieser Problematik auseinandersetzt bzw. auseinandersetzen kann, variieren außerordentlich stark. In den „Halbstarken“ verkörpert sich daher heute ebensowenig die Jugend schlechthin wie einst etwa im „Tangojüngling“ oder im „Swing-Boy“. Die „Halbstarken“ sind bisher so gut wie ausschließlich auf die Großstädte beschränkt geblieben; und in den betroffenen Städten ist selbst nach den pessimistischsten Schätzungen mit einem Prozent der Jugend das höchste Ausmaß der Beteiligung erreicht.
Rechnet man allerdings jeden kriminellen Jugendlichen zu den „Halbstarken“ und erblickt man in jedem, der eine Jazzveranstaltung oder einen Wildwestfilm besucht oder auch nur gelangweilt auf der Straße herumsteht, zumindest einen potentiellen „Halbstarken“, und das unter Umständen noch unabhängig von seinem Alter, dann wächst das Phänomen in der Tat zu bedrohlicher Größe an; dann hört jedoch auch die Möglichkeit einer vernünftigen Diskussion auf. Der Versuch, die Frage der „Halbstarken“ wenigstens an einigen Stellen auf das ihr gemäße Maß zurückzuführen, bedeutet nämlich nicht, daß eine derartige Diskussion nicht möglich oder gar nicht notwendig sei. Wenn auch die kleine Gruppe der „Halbstarken“ nicht die heutige Jugend schlechthin verkörpert, so werden doch in ihren extremen Reaktionsformen Probleme sichtbar, mit denen sich wahrscheinlich der größte Teil der großstädtischen Jugend in der einen oder anderen Weise auseinandersetzen muß.
Wenn der „Halbstarken-Krawall“ der Vergangenheit sich nicht teils einer breiteren Publizistik entzogen hätte, teils auf Grund der besonderen Gegebenheiten unter einem anderen Akzent als heute registriert worden wäre, könnte in vielen Fällen schon der Rückgriff auf die Erfahrungen in der Zwischenkriegszeit zeigen, daß wohl die spezifischen Ausdrucksformen, aber keineswegs die Problematik selbst mit den besonderen Bedingungen unserer Tage verbunden ist. So darf man doch zum Beispiel nicht übersehen, daß immer ein Teil der in den handgreiflichen politischen Auseinandersetzungen der zwanziger Jahre engagierten Jugendlichen alles andere als in einem tieferen Sinn politisch engagiert war. Diese Auseinandersetzungen boten jedoch einem weithin undifferenzierten Aktionsdrang fast ungehemmte Entfaltungsmöglichkeiten. Es ist daher sicher kein Zufall, daß dieser pseudopolitische Teil der Jugend mehr und mehr zu den radikalen, also „aktionsträchtigen“ Flügeln des politischen Lebens hin abwanderte. Nach 1933 wurde dann dieser Aktionsdruck gewaltsam kanalisiert und nur soweit freigegeben, als es den Zielen der Machthaber entsprach (Judenverfolgung zum Beispiel und Krieg). In der Gegenwart sind dagegen die Voraussetzungen für ein derartiges „politisches Engagement“ weitgehend geschwunden. Unser Mißverständnis beginnt dort, wo wir ein gleichartiges Verhalten nur deswegen anders beurteilen und bewerten, weil es sich nicht mehr vordergründig politisch motiviert, sondern gleichsam unverhüllt, motivlos zutage tritt. Die Frage, warum es heute „Halbstarke“ gibt, ist daher falsch gestellt, denn „Halbstarke“ gibt es nicht erst seit heute. Die Frage müßte richtiger lauten, warum es heute keine „Halbstarken“ mehr in der edleren Verpackung „höherer“ Motive gibt.
Eine entscheidende Wurzel des „Halbstarken-Problems“, die die ganze Frage über jene penetrante Aktualität hinausführt, die man ihr heute so gerne verleihen möchte, ist in dem entwicklungsbedingten Zusammentreffen von forciertem Betätigungs- und Geltungsdrang einerseits und seelisch-geistiger sowie sozialer Labilität andererseits zu suchen, das die Periode des Übergangs aus der Kindheit ins Erwachsensein auszeichnet. Diese Konstellation enthält von vornherein die Möglichkeit eines Konflikts mit der Umwelt. Nicht daß es „Halbstarke“ gibt, sondern daß es so verhältnismäßig wenige „Halbstarke“ gibt, ist daher das eigentlich überraschende Moment. Daß die Halbstarken-„Problematik“ bis heute zwar nicht ausschließlich, aber doch überwiegend auf die Großstädte beschränkt geblieben ist, zeigt, daß erst in den Großstädten jene Klammern gelöst worden sind, die das labile Gleichgewicht der Uebergangszeit, der sogenannten Jugendzeit also, vor dem Umschlagen bewahrt haben.
Verstopfte Ventile
Man hat offensichtlich in den Großstädten das Gefühl dafür verloren, daß sich der undifferenzierte Betätigungsdrang nicht restlos in „sozial nützlichen“ Tätigkeiten kanalisieren läßt, ja, daß der Drang zur Aktion um der reinen Aktion willen in dem Maße wächst, wie der Mensch in ein Geflecht rigoroser Verhaltensnormierungen eingezwängt wird. Es kann nun keineswegs bestritten werden, daß die traditionellen Reglementierungsformen gegenüber der Jugend weitgehend abgebaut worden sind, so weitgehend sogar, daß sich die Stimmen zu mehren beginnen, die alle Auswüchse jugendlichen Verhaltens auf die zu lasch, zu weich gewordene Erziehung zurückführen wollen. Man übersieht dabei nur, daß sich die Rigorosität in andere Bereiche verlagert hat, und daß man sie dort mit aller Konsequenz durchzuhalten versucht. So ist, um nur ein Beispiel herauszugreifen, der Arbeitstag des jungen Menschen auf das Äußere hin gesehen im allgemeinen nicht nur kürzer, sondern auch leichter geworden. Entscheidend für unsere Frage ist aber, daß zumindest in gleichem Maße die Anforderungen an die Verhaltensdisziplinierung in der Arbeit gewachsen sind. Schon der Lehrling und der junge Arbeiter werden dem hohen Sachzwang der rationalisierten Arbeit und Ausbildung unterworfen.
Hinzu kommt, daß sich die Erwachsenenwelt bei aller „Weichheit“, Unsicherheit und Unklarheit gegenüber der Jugend in einem Punkt einig zu sein scheint: zumindest in den größeren Städten herrscht so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz, daß die Jugend zur Ruhe angehalten werden müsse, und sei es mit Hilfe der staatlichen Zwangsgewalt. […] So beschneidet man dieser Jugend, wo immer es geht, rigoros jede Möglichkeit des „sinnlosen“ Sich-Austobens. Das heißt, man nimmt der großstädtischen Jugend das, was für die Jugend des Landes und der kleinen Städte noch selbstverständlich war und ist: die legitime Möglichkeit, aus den geschriebenen und ungeschriebenen Verhaltenszwängen der Gesellschaft auszubrechen.
Man bemüht sich also, alle Ventile zu verstopfen, durch die „sinnlose“ und „störende“ Energien entweichen könnten, und wundert sich dann, wenn diese Energien sich selbst einen Ausweg suchen und dabei das ganze Gehäuse reglementierten Wohlbenehmens durchlöchern. Der Halbstarken-Krawall ist seiner Substanz nach nichts anderes als der „Dummenjungenstreich“ unserer Väter oder der handgreifliche Abschluß einer Dorfkirmes. Aber der Dummenjungenstreich und der Kirmeskrawall waren vorgegebene Ventile, die ihren selbstverständlichen Platz im Sozialgefüge hatten. Man wußte um ihren Ventil-Charakter, um die Notwendigkeit und Begrenztheit ihrer Existenz, so daß man sie innerhalb dieser Grenzen nicht nur tolerierte, sondern sogar förderte, allerdings auch ebenso rigoros zurückschnitt, sobald diese Grenzen überschritten wurden. In dem jetzigen Sozialgefüge einer Großstadt dagegen, in dem das Miteinander, zumindest idealiter, nur in Bahnen verlaufen soll und kann, die einsehbaren Sachzusammenhängen entspringen, muß der Jugendliche, der sich „nur“ austoben will, mehr und mehr zu einem Fremdkörper werden.
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Das, was sich im „Halbstarken“ verkörpert, widerspricht in der Tat zutiefst den großstädtischen Ordnungsstellungen. Man macht daher auch gar nicht erst den Versuch, das „Anliegen“, das die „Halbstarken“ vortragen, in dem Sinne ernst zu nehmen, daß man sich um eine legitime Chance seiner Verwirklichung bemüht. Was bleibt, ist das Bemühen, ihm mit moralischen Appellen, Verdammnisurteilen, polizeilicher Gewalt oder prophylaktischer Jugendbetreuung zu begegnen. Erfolge sind auf diesen Wegen allerdings kaum zu erwarten, denn die Wurzel des Übels, die übermäßige Beschneidung der spontanen, „sinnlosen“ Aktion, wird damit nicht nur nicht beseitigt, sondern geradezu verstärkt. Die hektische Diskussion um die „Halbstarken“ wird bald wieder zu Ende sein; das Problem aber, das dabei nur in seinen äußersten Schichten sichtbar geworden ist, wird solange ungelöst bleiben, als man nicht sieht, daß man dem „sinnlosen“ Tun um so mehr ein Recht einräumen muß, je mehr man den jungen Menschen in ein feinmaschiges Geflecht „sinnvoller“ und sachbezogener Verhaltensweisen einspannen will und vielleicht auch muß. Eine Norm, die respektiert sein will, muß die Chance des Normenbruchs gleichsam von vornherein mit in sich aufnehmen. Hier liegt das Problem: die großstädtisch-industrielle Gesellschaft hat das Sicherheit verleihende Selbstvertrauen gegenüber ihrer eigenen Stabilität und Elastizität verloren, das notwendig ist, um einen „ernst gemeinten“ Dummenjungenstreich noch als Dummenjungenstreich werten, daß heißt zugleich ertragen und in seinen Grenzen festhalten zu können.
Keine stützende Umwelt
In der Regel führt dieser spontane, gegen jegliche Einbindung gerichtete Aktionsdrang trotz allem nicht zu einem offenen Konflikt mit der gesellschaftlichen Umwelt. Wenn es zum „Krawall“ kommt, dann sind eine Reihe verstärkender oder auslösender Faktoren mit im Spiel gewesen. Zwei scheinen dabei nach den bisherigen Beobachtungen von besonderer Gewichtigkeit zu sein: der Geltungsdrang und das Fehlen einer stützenden Umwelt. Der Heranwachsende sucht nach der Anerkennung seiner „Vollgültigkeit“, nach einer Bestätigung seiner „Gleichwertigkeit“ durch die Umwelt. Die Bedeutung dieser Frage wird bei uns zu leicht unterschätzt, weil wir uns weithin an dem Glauben festklammern, der Jugendliche lebe in einer eigenen, von der der Erwachsenen weitgehend getrennten sozialen Welt. Das mag für einen Teil der Jugend stimmen, der weitaus größte Teil aber orientiert sich an den Maßstäben der Erwachsenenwelt. Jugendlicher sein, heißt doch nicht, eine eigene Welt gründen, sondern Erwachsener werden, aus der Rolle des „Noch-nicht-ganz-für-voll-genommen-Werdens“ herauskommen. Der junge Mensch reagiert daher außerordentlich empfindlich, wenn ihm auf die Dauer eine Anerkennung versagt bleibt.
Nun bieten aber die anonymen und versachlichten Strukturen der Großstädte und der großbetrieblichen Arbeitswelt an sich schon immer weniger Möglichkeiten, eine Umwelt zu finden, die Anerkennung verleihen kann. Wenn überhaupt, dann hat hier die These von der „Vereinsamung“ der heutigen Jugend ihren Grund. Eine „menschliche Begegnung“, die sich in einer sozial irrelevanten Situation vollzieht, mag das Problem wohl zeitweilig überdecken, löst es aber trotz aller romantischen Verklärung nicht. Die Begegnung mit irgendeinem durchbricht die „Einsamkeit“ nicht, wenn dieser eine, der den Jugendlichen „ernst“ nimmt, ihm nicht als Repräsentant einer sozial relevanten Welt erscheint. Hinzu kommt nun aber, daß die Erwachsenenwelt, an der sich der Jugendliche in seinem Streben nach Gleichrangigkeit zu orientieren versucht, selbst keine Formen von maßstäblicher Verbindlichkeit mehr anzubieten hat. Die Erwachsenen sind doch selbst in die zutiefst verunsichernde Beliebigkeit ihrer sozialen Rollen hineingeraten. Aus dieser Unsicherheit heraus werden sie ja auch immer unfähiger, sich unmittelbar mit der Jugend auseinanderzusetzen; das „Vorreden“ rückt immer mehr an die Stelle des „Vorlebens“.
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Die widerspruchsvolle Rolle
In der Begegnung mit der Erwachsenenwelt wird daher die Labilität des jungen Menschen eher verstärkt als abgeschwächt. Sie führt dann fast zwangsläufig in den offenen Konflikt hinein, wenn auch noch die stützende und einbindende Kraft der unmittelbaren Umwelt, vor allem der Familie, so weit zerstört ist, daß sie ein Umschlagen des labilen Zustandes weder zu verhindern, noch aufzufangen vermag. So sind denn auch Jugendliche aus unzulänglichen Familienverhältnissen ganz offensichtlich zu den entscheidenden Trägern und Teilnehmern der „Halbstarken-Krawalle“ geworden. Wir dürfen dabei auch nicht übersehen, daß wir gerade den jungen Menschen zwischen dem 16. und 21. Lebensjahr in eine merkwürdige Zwitterstellung des Nochnicht- und Schonerwachsenseins hineinmanövriert haben, die es ihm gestattet, sich im Konfliktsfall auf die Rolle mit den größten Rechten, nämlich die des Erwachsenen, zu berufen und sich zugleich vor sich selber mit der Rolle zu rechtfertigen, die ihm die geringste Verantwortung aufbürdet, nämlich mit der des Jugendlichen oder gar noch des Kindes.
Die Rolle der Jugend in unserer Gesellschaft ist doch als einzige bereits in sich widerspruchsvoll. Der junge Mensch soll heute für das Elternhaus Kind, nach dem Willen bestimmter Gesetze und Freizeitforderungen Jugendlicher und in der Arbeits- und Berufswelt weithin schon Erwachsener sein. Das ist aber im letzten Grunde eine unlösbare und zutiefst konfliktgeladene Aufgabe. Die erwerbstätige Jugend ist diesem Dilemma in besonderem Maße ausgesetzt, weil sie unter dem Druck der für ihr Dasein zentralen Arbeitswelt verhältnismäßig schnell einen erwachsenenkonformen Habitus entwickelt. Findet sie aber jenseits der Arbeit keinen eindeutigen Zugang zur Erwachsenenwelt, dann ist die Kurzschlußhandlung sicher nicht die richtige, aber immerhin eine begreifliche Antwort. „Wir wollten zur Kenntnis genommen werden!“ Mag diese Aussage von „Rädelsführern“ bei „Halbstarken“-Krawallen auch noch so vordergründig gemeint gewesen sein, sie trifft eines der Elemente, aus denen sich die sogenannte „Halbstarken-Problematik“ zusammensetzt.
Gerade dieses Element ist es offensichtlich auch gewesen, das auf die unglückliche Publizität der „Halbstarken“ in den letzten Monaten angesprochen hat. So unsinnig die Behauptung wäre, die Publizistik habe die „Halbstarken“ erst geschaffen, so wenig kann man an der Tatsache vorbeisehen, daß die hektische Berichterstattung in einer Reihe von Fällen das auslösende Moment abgegeben hat. Daß die Gesamtsituation hier noch keineswegs so labil gewesen ist, daß sie in einen offenen Konflikt hätte umschlagen müssen, wird sich wahrscheinlich schon in nächster Zukunft daran erweisen, daß ein großer Teil der „Halbstarken“ mit dem Abklingen der Publizität genau so plötzlich wieder verschwinden wird wie er aufgetreten ist. Um derartige Erscheinungen hat es sich offensichtlich auch dort gehandelt, wo die Polizei das „Halbstarken-Problem“ durch „Nichtzurkenntnisnahme“ der „Halbstarken“ vermeintlich gelöst hat. Diese Patentlösung dürfte sich daher auch als recht unwirksam gegenüber den „echten Halbstarken“ herausstellen, das heißt dort, wo die Situation selbst keine stabilisierenden Elemente bereitstellt.
Quelle: Heinz Kluth, „Die ‚Halbstarken‘ – Legende oder Wirklichkeit?“, deutsche jugend, Bd. 4 (Januar-Februar 1956), S. 495–502.