Kurzbeschreibung

Die erhebliche Bereitstellung materieller Hilfen an einen scheinbar endlosen Strom von DDR-Übersiedlern zusätzlich zu den Spätaussiedlern und Asylsuchenden schuf weit verbreitete Ressentiments, nicht zuletzt weil es bereits Wohnungsknappheit gab, zwei Millionen Westdeutsche bereits arbeitslos waren und die Mittel der Sozialversicherung zur Neige gingen. Daher schlugen einige Politiker den Abbau von Sozialleistungen an Aus- und Übersiedler vor, um Wege zur Kostenreduzierung zu finden.

Ressentiments gegen die Unterstützung ostdeutscher Übersiedler (22. Januar 1990)

Quelle

„Da brennt die Sicherung durch“

Mindestens 500 000 DDR-Bürger werden in diesem Jahr in die Bundesrepublik übersiedeln, Hunderttausende kommen aus den Ostblockstaaten. Wer soll die Einwanderer bezahlen? Der Kampf um Jobs und Wohnungen wird härter; Renten- und Krankenversicherungen sehen sich enormen Zusatzforderungen ausgesetzt.

[]

Die erste Begeisterung über die Öffnung der Grenzen legt sich, die zu Tränen rührende Freude weicht einer nüchternen Beschau dessen, was die deutschdeutsche Freizügigkeit den wohlhabenden Weststaat kosten wird. []

Sorgenvoll werden die Zahlen der Neubürger addiert und hochgerechnet. Täglich wechseln derzeit bis zu 2000 Deutsche-Ost nach Deutschland-West, für das ganze Jahr werden in Bonn mehr als eine halbe Million Übersiedler nicht mehr ausgeschlossen. Bleibt die Wirtschaftslage der DDR so trostlos wie im Augenblick, verschlimmert sie sich gar, so dürfte der Strom der Abwanderer noch deutlich anschwellen.

Dazu kommen jene, die aus osteuropäischen Staaten und der Sowjetunion ins vermeintliche Paradies Bundesrepublik umziehen. Alles zusammen wird das westliche Deutschland in diesem Jahr durch Aus- und Übersiedler eine Million Bürger dazugewinnen, mindestens. Bereits 1989 waren es 720 000 Aus- und Übersiedler.

Ängste machen sich breit, daß diejenigen, die nun mühelos die Grenzen passieren, die Kräfte selbst der reichen Bundesrepublik überfordern; daß die Sozialsysteme, daß der Wohnungs- und der Arbeitsmarkt dem Ansturm nicht gewachsen sind; daß Gefahr für den hart erarbeiteten Wohlstand droht.

Wer füllt jene öffentlichen Kassen auf, aus denen Studienförderung, Sozialhilfe und Eingliederungshilfen für die Zuzügler aus dem Osten bezahlt werden müssen? Hält das ohnehin zum Zerreißen angespannte soziale Netz dem zusätzlichen Druck von Millionen Aus- und Übersiedlern stand?

Probleme gab es auch schon ohne die jüngste Zuwandererwelle, vor der Grenzöffnung, zuhauf. 1987/88 war, für die Bonner Politiker völlig überraschend, der Wohnungsmarkt gekippt. Die leerstehenden Behausungen in den Sozialgettos am Stadtrand füllten sich wieder mit Menschen, die Nachfrage überstieg das Angebot. Inzwischen herrscht nicht nur in Groß-, sondern auch in vielen Mittel- und Kleinstädten eine beklemmende Wohnungsnot.

Der Arbeitsmarkt ist seit Jahren aus dem Lot. Seit 1983 lebt die Bundesrepublik ohne Unterbrechung mit rund zwei Millionen registrierten Arbeitslosen. Auch die Super-Konjunktur der vergangenen Jahre hat den Mangel an bezahlter Arbeit nicht beseitigen können.

Schließlich, und nicht zuletzt, die Sozialsysteme. Noch ist gut in Erinnerung, daß deren Sanierung – auch ohne die Neubürger – als bedeutendste politische Aufgabe dieser Legislaturperiode eingestuft wurde. Es bedurfte einer großen Koalition zwischen Christdemokraten, Liberalen und Sozialdemokraten, die Rentenversicherung zumindest bis ins nächste Jahrtausend zu sichern.

Nur mit drastischem Leistungsabbau war es möglich, den Anstieg der Krankenkassenbeiträge zumindest vorübergehend zu bremsen. Die Arbeitslosenversicherung ist nach wie vor auf Milliarden-Zuschüsse aus der Bonner Kasse angewiesen. Die Gemeinden ächzen unter der Last der Sozialhilfe.

Wohnungsmangel, Millionen-Arbeitslosigkeit, leere Sozialkassen – und nun Hunderttausende, wenn nicht Millionen, die alle diese Mängel und Nöte verschärfen werden.

Inzwischen haben Politiker aller Richtungen, allen voran der inoffizielle SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine, erkannt, welch gefährliche Mischung sich da aus Mißgunst und Existenzangst zusammenbraut.

Die Aus- und Übersiedler und ihre vermeintliche oder tatsächliche Bevorzugung bei Arbeit und Wohnung, Rente und Krankheitskosten – dieses Thema droht zu einem Hit des Wahlkampfjahres 1990 in der Bundesrepublik zu werden. Emsig sind die Parteien dabei, sich auf diese Auseinandersetzung vorzubereiten.

Plötzlich merken alle, daß das Kriegsfolgerecht 45 Jahre nach Ende des Krieges nicht geeignet ist, die Völkerwanderung im Zeitalter der Freizügigkeit zu bewältigen. „Das ganze Recht muß auf eine neue Grundlage gestellt werden“, sagt der Sozialexperte Gerhard Scheu von der CSU.

Flink schob sich die CSU vorige Woche mit einem eigenen Programm in den Vordergrund. Sie will die Rente der Aus- und Übersiedler beschneiden. Ein Schnellschuß soll publikumswirksam verhindern, daß staatsbekannte SED-Funktionäre und Mitglieder des Staatssicherheitsdienstes in der Bundesrepublik üppige Ruhegelder kassieren.

In der Bonner Koalitionsrunde, am Dienstag vergangener Woche, zeigte sich CDU-Arbeitsminister Norbert Blüm bereit, DDR-Militärs und Stasi-Rentner vom westdeutschen Sozialtopf fernzuhalten. Eine Regierungsarbeitsgruppe, so beschloß die Runde, soll zudem schnell das gesamte Rentenrecht überprüfen. In dieser Woche wollen die Regierungschefs der Länder über den Abbau zahlreicher Sonderleistungen für Aus- und Übersiedler entscheiden.

Die Politiker haben, ausnahmsweise, eine gute Witterung für die Stimmung an der Basis. Die Regierenden wissen aus langjähriger Erfahrung: Teilen im anonymen Kollektiv gehörte noch nie zu jenen Fähigkeiten, die bei den Bundesbürgern besonders ausgeprägt waren.

Entwicklungshilfe für die Dritte Welt leisteten die Bonner Regierungen quasi gegen den Mehrheitswillen, weil die außenpolitischen Zwänge dies erforderten. Ausländische Mitbürger waren, auch wenn sie noch so viel zum Bruttosozialprodukt beitrugen, stets Gegenstand des Sozialneids.

Die Toleranz gegenüber den DDR-Deutschen ist zweifellos größer, sie fallen weder durch die Hautfarbe noch durch die Sprache auf. Doch je mehr sich rumspricht, was die Neuen das Land kosten oder kosten können, um so entschiedener wird gewiß die Abwehrhaltung. Zumal die DDR-Bürger durchaus Abgreif-Qualitäten besitzen. Rund 60 Prozent der Übersiedler aus der DDR etwa, die in den ersten sechs Monaten des vorigen Jahres in West-Berlin eintrafen, ließen sich damals zunächst einmal krank schreiben. Bereitwillig attestierten Ärzte „Übersiedlungssyndrome“ oder „Adaptionsschwierigkeiten“.

Hier und da lagen sicherlich Krankheitszeichen vor. Der Hauptanreiz, das neue Leben im Westen krank zu beginnen, lag aber sicherlich woanders: Das Krankengeld ist deutlich höher als das Arbeitslosengeld. []

Quelle: „Da brennt die Sicherung durch“, Der Spiegel, 22. Januar 1990.