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Ende einer Kanzlerschaft
Zu lange hatte die große Gestalt des „Weltklasse“-Politikers Helmut Kohl die Schwächen der Union verdeckt – schleichend erstarrte das Parteileben
Manche CDU-Mitglieder hatten das Ende der Kanzlerschaft geahnt und befürchtet, andere hatten es klar kommen sehen. Aber kaum jemand hat vor dem Wahlabend offen darüber geredet. Tapfer unterdrückten sie ihre Ängste, riefen laut „Mach’s noch mal Helmut“ und vertrauten auf den Mythos seiner Unbesiegbarkeit.
War es Helmut Kohl nicht jedes Mal wieder gelungen, nach einer fulminanten Aufholjagd den politischen Gegner im Ziel abzufangen? Hatte der „Kampfelefant“ nicht an jedem Abend einer Bundestagswahl seit 1983 über seinen jeweiligen SPD-Herausforderer triumphiert? Und hatte er nicht die Kleinmütigen und Verzagten in der eigenen Partei beschämt? So war es bisher. Doch auch die längste Erfolgsserie geht einmal zu Ende.
Programm vernachlässigt
Lange, viel zu lange hatte die große Gestalt des „Weltklasse“-Politikers die Schwächen der Union verdeckt. Weil Kohl sich und ihnen die Macht sicherte, haben viele Christdemokraten die schleichende Erstarrung des Parteilebens ignoriert. Weil er besser als jeder andere deutsche Politiker das Mehrheitsgefühl der Menschen verkörperte, haben Parteigremien den inneren Diskurs über Profil und Programm vernachlässigt. Und weil es ihm in 25 Jahren als Vorsitzender gelungen war, die christliche Volkspartei mit ihren Flügeln und Gruppeninteressen zusammenzuhalten, hat sich das Parteivolk nicht daran gestört, daß Kohl kritische Geister an den Rand drängte und Ruhe zur vornehmsten Christdemokraten-Pflicht erklärte.
Als der damalige Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz 1973 als neuer Hausherr in die Bonner CDU-Zentrale kam, war die Partei in einem ähnlichen Zustand. Unter der Regentschaft von Konrad Adenauer war sie zum „Kanzlerwahlverein“ geworden, eine lose Vereinigung von Interessengruppen, die vom Streben nach Machterhaltung zusammengehalten wurde. Die Nachfolger des „Alten“, Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger und Rainer Barzel, hatten daran nicht viel geändert. Erst Helmut Kohl, „der schwarze Riese“ aus Mainz, wie er seinerzeit genannt wurde, erkannte die Schwächen und machte sich daran, den betulichen Honoratioren-Verband aus seinen Verkrustungen zu befreien und in eine moderne Volkspartei zu verwandeln.
Kohl, der Mann aus der Provinz, verkörperte einen neuen Typus von Parteiführer. Pragmatisch, flexibel und aufgeschlossen für Reformen. Er sammelte kluge und eigenwillige Leute, wie Kurt Biedenkopf, Heiner Geißler und Peter Radunski, um sich, mit denen er das verstaubte Adenauer-Haus umkrempelte und die CDU zu einer motivierten, schlagkräftigen Truppe ausbaute.
Die Erneuerung beschränkte sich aber nicht nur auf die Organisation. Mit einem wachen Sinn für gesellschaftliche Veränderungen machte sich Kohl daran, die Union auch programmatisch zu entrümpeln und für neue Strömungen zu öffnen. Auf den Parteitagen der siebziger Jahre wurde kontrovers, lebendig und kreativ diskutiert. Über die Mitbestimmung und die Bodenreform, über Unternehmensrecht und die „neue soziale Frage“, mit der sich die CDU, vorangetrieben vom Vordenker Heiner Geißler, stärker gesellschaftlichen Randgruppen zuwandte.
Mit der Übernahme des Regierungsamtes 1982 begannen sich die Gewichte zu verschieben. Die Sicherung der Macht wurde wichtiger als die Wandlungsfähigkeit der Partei. Unbequeme Köpfe verschwanden nach und nach aus der Umgebung. Das Konrad-Adenauer-Haus verlor mehr und mehr seinen Rang als eigenständiges geistiges Zentrum zugunsten des Kanzleramtes. Und auch die Führungsgremien der CDU verstanden sich bald mehr als Akklamationstruppe denn als kritisches Korrektiv der Bundesregierung.
Kenner Kohls sind davon überzeugt, daß er die Runderneuerung der CDU aus ziemlich eigennützigen Motiven betrieb und die angeheuerten Reformer und Modernisierer nur als „nützliche Idioten“ betrachtete. Eine Hausmacht auf Zeit, die er brauchte, um sich gegen die alten Kräfte in Partei und Bundestags-Fraktion durchzusetzen und ins Kanzleramt zu kommen.
„Die CDU erneuern, um die Macht zu gewinnen, keine Experimente, um sie zu erhalten, das wäre die Lösung des Rätsels Kohl“, schreibt der Publizist Warnfried Dettling, der viele Jahre als Leiter der Planungsgruppe und Chef der politischen Abteilung in der Bundesgeschäftsstelle gearbeitet hat.
Daß er damit nicht falsch lag, zeigen die Vorgänge des Jahres 1989, als im Vorfeld des Bundesparteitages eine Gruppe von Reformern unter der Führung von Heiner Geißler und Lothar Späth den CDU-Vorsitzenden zu entmachten versuchten. Der „Putsch“ scheiterte kläglich. Und Kohl degradierte ohne Skrupel und Sentiment seine Kritiker und Rivalen zu Randfiguren.
Von diesem Zeitpunkt an war die CDU nur noch ein Anhängsel des Kanzleramtes. Die jeweiligen Generalsekretäre ließen sich von Kohl schurigeln. Die Riege der Stellvertreter im Parteivorsitz nahm in der Öffentlichkeit kaum jemand wahr, weil sie nichts Wegweisendes zu sagen hatte. Innovation erschöpfte sich weitgehend in technischer Aufrüstung. Und das christdemokratische Fußvolk marschierte brav hinter dem Kanzler her, solange der als Wahlkämpfer erfolgreich war.
1989, als sich für Kohl im Jahr darauf eine Niederlage bei der Bundestagswahl abzeichnete, rettete ihn der „revolutionäre Herbst“ in der DDR und die Bereitschaft Michail Gorbatschows, die deutsche Einheit zuzulassen. Eine historische Chance, die Kohl mit seinem sicheren politischen Instinkt entschlossen nutzte. Mit der Folge, daß er 1990 als „Kanzler der Einheit“ über die SPD triumphierte und auch 1994 mit diesem Nimbus noch einmal, wenn auch nur knapp, als erster durchs Ziel ging.
Doch wer genauer hinsah, mußte feststellen, daß die Ergebnisse von Mal zu Mal schrumpften. Von 48,8 Prozent 1983 auf 41,4 Prozent im Jahr 1994. Zusammen mit den Liberalen betrug der Vorsprung gegenüber der Bonner Opposition gerade noch 0,3 Prozent. Oder anders gerechnet 142 682 Stimmen. Noch deutlicher zeigte sich der Machtverfall der CDU in den Bundesländern.
Wenn Kohl bei Jubiläen und anderen feierlichen Anlässen von der „einzigartigen Erfolgsgeschichte“ der CDU redet, unterschlägt er in der Regel die Schattenseiten. Zum Beispiel den rasanten Mitgliederschwund. Hatten 1992 713 000 Menschen ein CDU-Parteibuch, waren es Ende August 1997 nur noch 636 285. Zugleich ist die CDU mit Kohl alt geworden. Fast zwei Drittel aller Mitglieder sind 50 Jahre und älter.
Gewiß ist der Vorsitzende für diese Auszehrung nicht allein verantwortlich. Die Milieus, die mit den Volksparteien auch die Gesellschaft stabilisiert haben, werden schwächer oder lösen sich auf. Die soziale Bindekraft schwindet. Nicht nur bei Parteien, sondern auch bei Kirchen, Gewerkschaften, Verbänden.
Kohl mit seinem ausgeprägten Gespür für Zeitströmungen hat diese Veränderungen sehr wohl registriert. Seine Reden aus jüngerer Zeit sind voll von nachdenklichen Passagen über Werteverfall, Individualisierung und Traditionsverlust. Aber er hat es versäumt, Folgerungen daraus zu ziehen und sie in seiner Partei umzusetzen. So viel er auch als Kanzler über den Zwang zu Veränderungen und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sprach, von der Zukunft der eigenen Partei war selten die Rede. Die hat sich, ob von Kohl gewollt oder nicht, zunehmend nur noch über ihren Vorsitzenden und Kanzler definiert. „Ohne ihn geht schon lange überhaupt nichts mehr“, spotteten CDU-Ketzer, „aber mit ihm geht immer weniger.“
Die jungen Wilden
Nicht etwa, daß er den Nachwuchs nicht gefördert hätte. Doch wenn die „jungen Wilden“ an der Spitze der Landtagsfraktionen und Landesverbänden mit ihren Forderungen nach radikaler Steuerreform, Entbürokratisierung und Einschnitten im Sozialsystem seine Konsenspolitik als Regierungschef störten, wurden sie von Kohl autoritär zurechtgestutzt.
Vereinigungen innerhalb der CDU, die sich einst als „Fühler in die Gesellschaft“ verstanden, haben ihren früheren Einfluß weitgehend verloren. Ob CDA, unter der die Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsgruppe firmiert, oder Frauen-Union, Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung oder Senioren-Union – fast alle sind zu Traditionsklubs verkümmert, die ihre gewohnten Rituale pflegen und in überkommenem Denken verharren. Die Junge Union eingeschlossen, die heute so zahm ist, daß sich der einstige JU-Rebell Helmut Kohl gelegentlich über so viel Fügsamkeit wundert.
Keinem von Kohls Amtsvorgängern ist es gelungen, ihren Abgang als Kanzler selbst zu bestimmen. Sie wurden entweder von ihrer Partei fallengelassen oder durch Koalitionswechsel aus der Verantwortung gedrängt. Wenn man ihre Regierungszeit betrachtet, wird deutlich, daß ihnen nach spätestens acht Jahren die Kraft ausging. Auch wenn der Verfall noch eine Zeitlang verborgen blieb.
Gescheitert sind allesamt nicht an den Wählern, sondern an den unbewältigten Aufgaben. Helmut Kohl, der „Rekord-Kanzler“, ist der erste Bonner Regierungschef, der sowohl sein Wahlziel nicht erreicht hat als auch seiner Partei eine gewaltige Hypothek ungelöster Probleme hinterläßt.
Quelle: Peter Pragal, „Ende einer Kanzlerschaft“, Berliner Zeitung, 28. September 1998.