Quelle
A. George Petre, Britischer Gesandter in Württemberg, an den Earl of Granville, Nr. 17, Stuttgart (28. März 1873)
[Empfangen am 31. März durch Kurier. Für: Die Königin/Gladstone/Umlauf; G[ranville]]
Schwere antisemitische Unruhen in Stuttgart; Sozialdemokraten beschuldigt
Vorgestern kam es hier aus höchst trivialem Anlass zu recht schweren Unruhen, die erst durch das Eingreifen des Militärs niedergeschlagen werden konnten. Ein Soldat war mit einer jüdischen Tuchhändler[1] über den Preis eines Kleidungsstücks, das er zu kaufen wünschte, in Streit geraten; aus Worten wurden Schläge, und der Jude rief die Polizei, die ihm anscheinend half, den Soldaten nicht nur vor die Tür zu setzen, sondern auch zu malträtieren, wenngleich sich später herausstellte, dass Letzterer keine schweren Verletzungen davontrug.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich durch die Stadt das Gerücht, ein Jude und die Polizei hätten einen Soldaten ermordet, und gegen Abend versammelte sich eine erregte Menge in dem Stadtviertel, in dem der Vorfall sich ereignet hatte, warf die Schaufenster mehrerer jüdischer Bekleidungshändler ein und bewarf und attackierte die Polizei [.]
Diese Szenen wiederholten sich am darauffolgenden Abend. Dabei wurde die Polizei noch heftiger angegriffen und ging mit gezückten Säbeln gegen die Angreifer vor. Die Behörden waren alarmiert, und nicht weniger als ein Infanteriebataillon und zwei Kavalleriegeschwader wurden zur Unterstützung der Polizei herbeigerufen.
Für einen gewöhnlichen Beobachter schien dies eine eher unnötige militärische Machtdemonstration, mit der es aber jedenfalls gelang, die Ruhe wiederherzustellen, die seither nicht mehr gestört wurde und wahrscheinlich auch nicht mehr gestört werden wird.
Es wird angenommen, dass Sozialdemokraten, die hier zahlreiche Anhänger in den arbeitenden Klassen haben, etwas mit der Anstachelung zu diesen Unruhen zu tun haben.
B. George Strachey, Britischer Gesandter in Sachsen, an den Earl of Derby, Nr. 7, Dresden (9. Februar 1877)
[Erhalten 12. Februar. Für: Die Königin/Lord Beaconsfield/Umlauf; D[erby]]
Bericht über ein leidenschaftliches Pamphlet gegen Fürst Bismarck und die Berliner „Gründer“
Die anhaltende und schwere Wirtschaftskrise in Deutschland liefert den „Feinden des Reiches“ überzeugende Argumente an die Hand. Fürst Bismarck wird vorgeworfen, auf Betreiben der Nationalliberalen einem System anzuhängen, das die 5 Milliarden an eine Clique von Börsenhändlern und Gründern aufgeteilt, Handel und Unternehmen ruiniert, Deutschland in Armut gestürzt, den Geldumlauf durcheinandergebracht und das Reich an den Rand des Bankrotts geführt habe. Auf den ersten Blick erscheint es vielleicht nicht der Mühe wert, die ignoranten oder böswilligen Verleumdungen von Agrariern, Protektionisten und anderen reaktionären Politikern zur Kenntnis zu nehmen, die gezielt just den Teil der Amtsführung des Fürsten angreifen, von dem Deutschland am stärksten profitiert und bei dem seine persönliche Initiative und Einmischung sich bekanntermaßen kaum bemerkbar gemacht hat. Dennoch haben solcherlei Vorwürfe ihre Bedeutung, weil ihnen wegen des sehr schwach ausgebildeten ökonomischen Verstandes der Deutschen weithin Glauben geschenkt wurde und weil bei den letzten Wahlen die extremen Parteien auf breiter Front gestärkt wurden, weil so viele diese Vorwürfe für berechtigt halten.
Der bekannte „Christliche Sozialist“ und politische Autor Dr. R[udolf] Meyer veröffentlichte dieser Tage ein geharnischtes und schlagkräftiges Pamphlet gegen den Reichskanzler, das sich rasch verkauft und dem Vernehmen nach in Deutschland erhebliche Wirkung entfaltet. Ich werde seine Streitschrift hier in groben Zügen zusammenfassen; dabei lasse ich die Beschreibungen und Statistiken, die Dr. Meyer dem Bismarckschen „Gründertum“ widmet, beiseite.
Bismarck habe keine Ahnung von politischer Ökonomie, Finanzen etc. und sei weder ein Verfechter des Freihandels noch ein Protektionist. Er wolle in Berlin etwas Ähnliches einführen wie jenen cäsarischen Saint-Simonismus, dessen Blütezeit er in Paris unter Napoleon III. miterlebt habe. So wie der französische Kaiser seine Lesseps, Pereires und Foulds[2] mit ihrem Crédit-Foncier und Crédit Mobilier und deren diversen Ablegern installiert habe, etabliere Bismarck seine „Patriotischen Geldmächte“. Der kraftlose [Rudolf von] Delbrück habe kein anderes Prinzip als „laisser faire“: [Otto von] Camphausen sei gänzlich inkompetent. Diese seien „Seine Minister“, und „durch seine Gunst“ hätten sie den alten Traditionen der Hohenzollern abgeschworen zugunsten eines Systems, das dazu angetan sei, Deutschland durch eine Gruppe von Blutsaugern zugrunde zu richten. Das Geld der Nation werde ausgegeben und investiert, die Währung sei einer Scheinreform unterzogen worden, gewaltige Spekulationsgeschäfte, von denen die Bankiers Delbrück, [Gerson] Bleichröder und [Adolph von] Hansemann profitierten, würden lanciert und gefördert. Unterstützt werde diese Schwindlerclique von einer Riege nationalliberaler Politiker, zu deren führenden Köpfen [Johannes] Miquel und [Rudolf von] Benningsen gehörten, und dies trage dazu bei, dass Bismarck in den „Kulturkampf“ hineingezogen werde, während seine saint-simonistischen Neigungen ihn zu Gründungen verleitete, die etwas Licht auf seine Verhandlungen mit [Ferdinand] Lassalle und den Berliner Sozialisten werfen. Die Discontogesellschaft, die Landkreditgesellschaft, die rumänische Eisenbahngesellschaft, der Sankt-Gotthard-Tunnel und eine Reihe maroder Eisenbahnen wurden auf behördliches Betreiben ins Leben gerufen. Die skandalösen Investitionen der Welfenfonds („Reptilienfonds“), der Invaliden-, Festungsbau- und Provinzialfonds, die schon zum Verlust von Millionen öffentlicher Gelder geführt habe, seien geplant worden, um die Clique zu bereichern. Als es zum Zusammenbruch kam, sei die Regierung vor allem darauf bedacht gewesen, ihre betrügerischen Bundesgenossen zu retten, statt ehrbaren Häusern und Interessen zu helfen. Die „politischen Gründer“ stünden auch nach Aufdeckung ihrer Vergehen nach wie vor hoch in der Gunst, sodass die ausländischen Botschafter sich zum Beispiel dazu herabließen, bei Bleichröder zu speisen, weil sie sich Bismarck zu verpflichten hoffen.
Der Reichskanzler als Person sei nicht unredlich, aber auch wenn seine Hände unbefleckt seien, lebe er mit diesen Dieben auf so vertrautem Fuße wie kein zweiter Minister in Europa. Auf die Korruption in Deutschland, die beinahe mit der Korruption vergleichbar sei, die in Frankreich unter Ludwig XV. geherrscht habe, habe Bismarck keine Antwort. Er habe von seiner Macht einen so schlechten Gebrauch gemacht, dass die Deutschen sich in einem Zustand des Servilismus befinden, der in der Geschichte nur eine Parallele finde: die Fabel von des Landvogt Gesslers Hut.[3] Wenn die Reichsregierung in anderen Händen gewesen wäre, hätte es weder ein Gründertum noch einen Kulturkampf gegeben, noch wären Paläste und Hütten in den Ruin gestürzt worden. Während Fürst Bismarck das alleinige mächtige Idol sei, werde Deutschland dem Reich, das Reich dem Kanzler und der Kanzler den Juden und Gründern geopfert. Für die politische Lenkung Deutschlands bleibe somit nur diese eine Regel: Man müsse „das bestehende System und seinen Träger beseitigen“.
Dr. Meyer spricht,[4] wie Eure Lordschaft feststellen werden, den Reichskanzler von persönlicher Bestechlichkeit frei. Doch die Streitschrift insgesamt bekräftigt im Grunde die Verleumdung, die die konkreten Worte dementieren mögen. Nur wenige von Dr. Meyers Lesern werden glauben, dass ein so mächtiger und tatkräftiger Mann wie Fürst Bismarck zum ohnmächtigen Werkzeug einer Bande von Gründern und Börsenmaklern werden kann.
C. George Strachey an den Marquess of Salisbury, Nr. 30, Dresden (20. Dezember 1879)
[Erhalten am 24. Dezember durch Berlin. Für: Die Königin/Lord Beaconsfield; S[alisbury], 26. Dezember]
Antisemitische Hetze in Dresden
Die judenfeindliche Hetze, die in einigen Teilen Deutschlands ein erhebliches Ausmaß erreicht, hat sich nach Dresden ausgebreitet.
Der neue „Kulturkampf“ verdient durchaus, dass Eure Lordschaft ihm Beachtung schenkt. Alle seine Urheber weisen vulgäre, konfessionelle Intoleranz von sich. Manche von ihnen bezeichnen ihre Propaganda zum Schein als einen aussichtlosen Versuch, zum Widerstand gegen die „Eroberung Deutschlands durch das Judentum“ anzuregen. Es ist natürlich abwegig, die deutschen Juden eine dominierende Rasse zu nennen in einem Land, in dem die Juden, auch wenn sie auf dem Papier vielleicht vollständig emanzipiert sein mögen, in der Regel praktisch von allen militärischen, zivilen und kommunalen Stellungen mit Ausnahme der unteren Ränge ausgeschlossen sind und, sofern sie keine Rothschilds oder Oppenheims sind und nicht in Berlin leben, schmählich behandelt werden.
Doch obwohl kein Jude in ein öffentliches Amt aufsteigen, ein Armeekorps oder ein Regiment befehligen oder Bürgermeister von Dresden oder Berlin werden darf, ist Deutschland in außergewöhnlichem Maße semitischen Einflüssen ausgesetzt. Die Juden sind mächtig, weil sie verfolgt werden. Dass sie von den meisten Gewerben, Handwerken und Berufen eifersüchtig ausgeschlossen wurden, trieb die Juden in bestimmte Industriezweige, in denen ihre Tatkraft und ihre Begabungen und das ererbte kaufmännische Wissen ihnen große Vorteile gegenüber allen Rivalen verschafften.
Ihre intellektuelle Brillanz ist weniger augenfällig als früher. Doch auch wenn sie in jüngster Zeit keinen Börne, Heine, Mendelssohn oder Meyerbeer hatten, haben sie dank ihrer Laskers und Bambergers die jüngste politische Entwicklung in Deutschland mitgeprägt und in mancherlei Hinsicht sogar eine führende Rolle übernommen.[5] Viele der wichtigsten Zeitungen befinden sich inzwischen in ihrem Besitz. Ihr Anteil am redaktionellen und schreibenden Personal der nationalliberalen & halbamtlichen Presse ist beinahe so groß, dass die kürzlich aufgestellte Behauptung berechtigt erscheint, in zehn Jahren werde es im Reich keinen unbeschnittenen Journalisten mehr geben.[6] Auf diese und auf andere Weise konnten die Juden eine Stärke entfalten, die weit über die Macht hinausgeht, die einer zahlenmäßig so kleinen Minderheit, die allen Fortschritten der Aufklärung zum Trotz den Widerwillen und die Ablehnung der Allgemeinheit so sehr auf sich zieht, natürlicherweise zukommt.
Das Einsetzen der konservativen Reaktion bot eine naheliegende Gelegenheit für einen Kreuzzug gegen die Juden. Die neue Propaganda gestaltet sich zum Teil als ein Angriff auf die nationalliberale Ordnung. Das Aufbegehren gegen Manchesterdoktrinen oder die lautstarke Forderung nach einer Rückkehr zu den Arbeitsbeschränkungen oder einem schärferen Strafgesetzbuch oder der Protest gegen Monometallismus,[7] Wucher, die Börse und die „Goldene Internationale“[8] wurden mit entsprechenden Andeutungen oder Tiraden gegen die Juden verknüpft. Wenn es zu einer ,„Judenhetze“ käme, könnte sie wohl auf die Unterstützung der ultramontanen Presse zählen, die freudig Vergeltung dafür üben würde, dass jüdische Journalisten sich im „Kulturkampf“ gegen die Katholiken stellten, und die hehren Gefühle der Protestanten, die durch die scharfen jüdischen Schmähungen gegen lutherische Würdenträger, Lehrmeinungen und Praktiken geweckt wurden, würden unweigerlich in das Geschrei einstimmen.
Eröffnet wurde der Feldzug wohl durch ein Pamphlet von W. Marr mit dem Titel „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum“.[9] Dieses äußerst stumpfsinnige Werk verkaufte sich bestens. Der Verfasser schlüpft in die Rolle eines Pessimisten, der nur das Ziel hat, in einem „Pronunziamento der Resignation“ darzulegen, wie restlos Deutschland vom Judentum unterjocht wird. Laut dieser Jeremiade sei das Kind unwiderruflich in den Brunnen gefallen; Abhilfe oder Linderung seien vergeblich. Dem Germanenthum bleibe nichts anderes übrig, als sich schweren Herzens in das Unvermeidliche zu fügen: das „Finis Germaniae“[10] sei gekommen, und der einzig mögliche Kommentar zu der Katastrophe laute „Vaevictis“.[11]
Diese ärmliche Ironie hatte beinahe mehr Erfolg als der Tuchhändler oder Peter Plymley.[12] Anscheinend gab sie den Anstoß zu Herrn Laskers Ausschluss aus dem Preußischen Landtag. Der führende Nationalliberale verlor seine Wahl in Breslau, weil man übereingekommen war, dass man einem Juden nicht seine Stimme geben sollte.[13]
Etwa um die gleiche Zeit formierte sich in Berlin eine „Antisemiten-Liga“,[14] und ähnliche Vereine wurden in Breslau, München, Nürnberg, Wien, Pesth, und anderen deutschen und ungarischen Städte gegründet. Im ersten Artikel ihrer Vereinsstatuten ermuntert die Berliner Antisemiten-Liga die „nichtjüdischen Deutschen aller Konfessionen, Parteien und Lebensstellungen“, „sich der weiteren Verdrängung des Germanentums durch das Judentum mit allen erlaubten Mitteln zu widersetzen“. Der Verein sagt von sich, „daß er sich die Zurückdrängung der Semiten in die ihrer numerischen Stärke entsprechende Stellung zur Aufgabe macht, daß er das Germanentum von dem auf ihm lastenden Druck des jüdischen Einflusses in sozialer, politischer und kirchlicher Richtung befreit und den Kindern der Germanen ihr volles Recht zu Ämtern und Würden im deutschen Vaterlande sichert.“
In Artikel 2 werden die Vereinsmitglieder ermuntert, Stellung zu beziehen und „ihr gemeinsames deutsches Vaterland vor der vollständigen Verjudung zu retten und den Nachkommen der Urbewohner den Aufenthalt in demselben erträglich zu machen.“
Ich weiß nicht, ob diese Liga vor oder nach der Zeit gegründet wurde, als der preußische Hofprediger Stoecker zwei (später gedruckte und mit enormem Erfolg verkaufte) Reden hielt. Herr Pfarrer Stoecker ist ein einflussreicher Patron der Berliner „Christlich-Sozialen“[15] und ein einflussreicher Polemiker. Anders als Marr hat er eine optimistische Meinung von der Lage und bezeichnet sie als gefährlich, aber nicht hoffnungslos. Er sucht mit statistischen Mitteln nachzuweisen, dass die Berliner Juden ein „imperium in imperio“[16] bilden, das mit seiner geballten Kraft, seinem Wohlstand, seiner Kultur, seiner Herrschaft über die Presse und seinem Einfluss auf das Bildungswesen und die Politik beispiellos sei und zu einer ernsten Gefahr für Deutschland werde. Er regt eine organische Reform an, die dem Kapital Zügel anlegen soll, indem Wucher, Hypotheken, Kredite und Börsenspekulationen streng beschränkt werden die Arbeit durch Wiederherstellung der Gilden wieder eine höhere Bedeutung bekommt. Mit Hilfe solcher weltlicher Waffen könnten Deutschland und das Christentum wiedergeboren und die Fesseln von Mammon und Talmuds gesprengt werden. Auch wenn Herr Stoecker bisweilen mit harten Worten gegen die „Schule des Satans“ zu Felde zieht, sieht er sich aufgrund des hebräischen Grundsatzes „Zahn um Zahn“ vollständig im Recht. Er sei persönlich israelitischen Unverschämtheiten ausgesetzt, und die Auszüge aus dem Berliner „Tageblatt“ und dem „Börsen Courier“, die er in seiner Rede zitiert, überführen seine Gegner kontroverser Anstandslosigkeiten, wie religiöse Minderheiten sie selten zu verüben wagten.[17]
Auf die ergänzende Literatur pro et contra, die in Berlin, Dresden, etc. erschien, brauche ich nicht einzugehen. Sie wird als wahre „Flut“ beschrieben und muss sehr einträglich sein, denn Marr begleitete nicht nur seinen ersten „Posaunenstoß“ mit einigen neuen Werken dieser Art, sondern hielt es auch für lohnenswert, eine monatlich erscheinende judenfeindliche Schmähschrift namens „Deutsche Wacht“ ins Leben zu rufen.[18]
Es schien nicht wahrscheinlich, dass die sächsische Phase der Propaganda besonders intensiv werden würde. Während in Berlin allein mehr als 45.000 und in Preußen 350.000 Juden leben, gibt es in diesem Königreich nur 5.000. Diese Zahl liegt weit unter dem normalen proportionalen Verhältnis in Deutschland. Mit einer unwichtigen Ausnahme[19] spielt kein Jude hier eine öffentliche Rolle, und es gibt keinen merklichen semitischen Antagonismus gegen die politischen oder kommerziellen Interessen der christlichen Seite. Doch ein „Reformverein“,[20] der jüngst zu reaktionären Zwecken in Dresden gegründet wurde, war der Meinung, die Verfolgung oder Zurückdrängung der Hebräer sei ein Ziel, auf das sie ihre Tätigkeit richten sollten. Da diese Funktion aber im Programm des Vereins nicht erwähnt wurde, schien es angebracht, sie indirekt zu erfüllen. So wurde die Angelegenheit dem Herrn Marr erläutert, der sich sogleich nach Dresden begab[21] und unter den Auspizien des „Reformvereins“ über sein Lieblingsthema vortrug. Herr Marr hatte seine Taktik geändert, denn nun erklärte er, die semitische Ansteckung lasse sich durch einige eigentümliche und von ihm selbst entwickelte Abhilfemaßnahmen kurieren. So dürften Juden zum Beispiel nicht in der Armee dienen, sondern müssten eine Blutsteuer zahlen, für die das Judentum als Ganzes verantwortlich sein müsse. Der „mosaische Mensch“ müsse aus sämtlichen amtlichen Stellungen entfernt werden. Alle an Juden zu zahlenden Rechnungen müssten in bar beglichen werden, sodass Geschäfte mit ihnen nicht unter die regulären Handelsgesetze fallen. Jüdische Zeitungen dürften keine Artikel über die religiösen und politischen Angelegenheiten der Christen veröffentlichen. Juden dürften kein Land besitzen, sofern es nicht von hebräischen Arbeitern bewirtschaftet wird. Jüdische Kapitalisten müssten zu Zwangskrediten verpflichtet und Börsengeschäfte besteuert werden. Diese Ideen mögen verwunderlich anmuten. Vielleicht sind sie weniger verwunderlich als die Tatsache, dass im Jahre 1879 im sogenannten „Elbflorenz“ ein zahlreiches und intelligentes Publikum sich diese Ideen geduldig und offenbar ohne Widerspruch angehört hat. Dresdens führende Zeitung druckte die Rede mit augenscheinlicher Billigung ab und prangerten einmal mehr mit entsprechenden Beschimpfungen und Invektiven [Eduard] Lasker, [Gerson] Bleichröder, die „Goldene Internationale“, den Monometallismus und den Freihandel an.
Es ist bezeichnend für die deutsche Staatskunst, dass Herr [Hermann] von Nostitz-Wallwitz [Sachsens Innenminister] eine gewisse Sympathie für diese Bewegung bekennt. Er trauert dem guten alten „Ghetto“- oder „Judenheit“-Prinzip nach, das hier bis zum Jahr 1867 [sic] mit vollem Nachdruck beibehalten wurde[22] und nach dem Juden sich in diesem Königreich außer in Dresden und Leipzig nirgends niederlassen durften. Dies sei, so der Minister, eine ausgezeichnete Regel gewesen, denn sie habe jene Eigentumserwerbe durch jüdische Besitzer verhindert, die sich andernorts als so verderblich erwiesen hätten.
Eines der jüngsten Vorkommnisse dieser Art war die Veröffentlichung eines Artikels des (sächsischen) Professors Treitschke an einer unerwarteten Stelle. In der Dezemberausgabe der „Preußischen Jahrbücher“ rügt der wortgewandte Essayist und Historiker zum Schein einige Auswüchse der judenfeindlichen Propaganda als „brutal und gehässig“, behauptet aber dann, sie seien nicht gänzlich unentschuldbar, und heißt diese praktisch gut.[23] Die „breite und tiefe“ Bewegung, so Treitschke, sei die „natürliche Reaktion des germanischen Volksgefühls gegen ein fremdes Element“, das Ergebnis der Kluft zwischen abendländischem und semitischem Wesen, die schon von jeher bestanden habe, seit Tacitus einst über das „odium generis humani“ klagte.[24]
Ein anderes national-liberales Organ, die Leipziger Zeitung „Im neuen Reich“, schloss sich jüngst mit einem Artikel[25] an, in dem es heißt, dass diese Propaganda rasch anwachse und sich nach Amerika ausgebreitet habe. Sie gründe auf tiefer und erbitterter Rassenabneigung und lege es nahe, dass man das gesamte von den deutschen Liberalen angenommene und von ihren politischen Verbündeten, den Juden, popularisierte moderne Wirtschaftssystem, unbeeinflusst von engen Manchester-Formeln, neu überdenkt.[26]
D. George Strachey an den Earl of Granville, Nr. 41, Dresden (6. Dezember 1880)
In meiner Depesche Nr. 30 vom 20. Dezember 1879 habe ich von der judenfeindlichen Hetze in Deutschland berichtet und dargelegt, wie es kam, dass die Bewegung sich nicht in das hiesige Königreich ausgebreitet hat.
Das Wiederaufflackern der Frage in Preußen hatte ein dünnes Echo in Leipzig, wo die Mehrheit der Studenten an der Universität augenscheinlich mit Professor Treitschke und der Verfolgungspartei sympathisieren.
Herr von Nostitz-Wallwitz lässt, wie schon vor einem Jahr, eine gewisse Zustimmung zu der Hetze erkennen. Er wünscht nicht, dass Sachsens Juden schikaniert werden, weil es in der heimischen Presse keine nennenswerten semitischen Elemente gibt und, da hier das „Ghetto“-Prinzip bis 1866 allgemein galt, die Juden weder zahl- noch einflussreich sind. Seine Exzellenz ist Abrahams Saat allerdings nicht wohlgesonnen und gestand mir neulich, dass er es in seiner Eigenschaft als Innenminister nicht wünschenswert fände, einen höheren Verwaltungsposten oder auch nur eine gehobene Schreiberstelle mit einem Juden zu besetzen. Als ich anmerkte, die Zurückhaltung der preußischen Regierung in der jüngsten Debatte ähnele der faktischen Ermutigung zum Agrarmord durch die Irische Landliga, sagte Herr von Nostitz, er sei mit der ablehnenden Haltung der preußischen Regierung ganz und gar einverstanden, weil so etwas wie eine öffentliche Zurechtweisung der Stoecker-Partei wie eine Belohnung der jüdischen Anmaßung gewirkt hätte, die in Berlin bereits alle Grenzen überschritten habe. „Außerdem bin ich, wie Sie wissen“, sagte Seine Exzellenz, „sehr reaktionär“ – eine Beschreibung, die auf ihn nicht wirklich zutrifft, außer vielleicht in Bezug auf sein religiöses Gedankengut.
Die öffentlichen Zeitungen schlagen sehr ähnliche Töne an. Das halbamtliche „Journal“ behandelt die „Hetze“ historisch, in einem trockenen und objektiven Ton, was unter den gegebenen Umständen gleichbedeutend ist mit Sympathie. Die „Dresdner Nachrichten“ gibt ihre judenfeindlichen Stimmungen freimütiger zu, doch die Feindseligkeit dieses Papiers ist ein rein kommerzieller und protektionistischer Hass, der sich gegen die „Goldene Internationale“ richtet, die – so erklärt die Zeitung – das Geld verteuere und zu Wucherzinsen verleihe und Deutschland durch übermäßige Einfuhren ausländischer Güter verarmen lasse.
E. George Strachey an den Earl of Granville, Nr. 28, Dresden (18. Juni 1882)
Der „freikonservative“ Reichstagsabgeordnete für den Wahlkreis Meissen, Professor [Gustav] Richter, gab neulich seinen Sitz auf, den er 8 Jahre lang innegehabt hatte, nachdem er für eine Stelle im Staatsdienst ernannt worden war.
Um den frei gewordenen Sitz bewarben sich drei Kandidaten: ein Konservativer, ein Sozialdemokrat, der bei den vorangegangenen Parlamentswahlen erfolglos gegen den scheidenden Abgeordneten angetreten war, und als Kandidat der Fortschrittspartei der Baumeister und Hauseigentümer Herr [Eduard] Kämpffer.
Im ersten Wahlgang erreichte keiner der Bewerber die absolute Mehrheit. In der Stichwahl erhielt der Kandidat von der Fortschrittspartei 7000 Stimmen und damit 550 Stimmen mehr als der Konservative. Insgesamt gaben etwas weniger als drei Viertel der eingetragenen Wählerschaft ihre Stimme ab, was eine für deutsche Verhältnisse überdurchschnittliche Wahlbeteiligung bedeutet. Der erfolgreiche Kandidat hatte anscheinend eine gewisse Unterstützung von den Sozialdemokraten bekommen, die der Fortschrittspartei in der Regel mit erbitterter Feindseligkeit begegnen. Es ist ein Zeichen der Zeiten, dass die heftige Abneigung zwischen den beiden Parteien in diesem Fall wohl überwunden wurde.
Alle Schalen des Zorns der Konservativen ergossen sich über die örtlichen Urheber dieser Koalition, die die Konservativen eine ihrer Hochburgen kostete, und über Herrn Eugen Richter, dem sein persönliches Eingreifen zugunsten seines Parteigängers ihm sehr übel genommen wird, weil er Preuße ist. Die konservativen Dresdner Nachrichten – eine Zeitung, deren einzigartige Ergiebigkeit beim Verbreiten von politischen Beschimpfungen, Verleumdungen und Unwahrheiten zu exemplifizieren ich oft Gelegenheit habe – erörtern die Wahl mit ihrer gewohnt anmutigen Ausdrucksweise. Die Liberalen seien Ausländer, – Berliner Talmudisten, – Apostel des Goldenen Kalbs, – Agenten der internationalen hebräischen Banken-Liga, – Schwindler, die mit Blutsaugen Geld verdienen Manchester-Vampire, die den arbeitenden Menschen ausnehmen und sein Blut saugen, indem sie Wucher und Effektengeschäfte betreiben und am Schreibpult Zahlen aufschreiben und die frei -int[ernationa]len Wucherer & Kapitalisten, die den arbeitenden Menschen ruinieren.
Der Grundton solcher Tiraden ist für die konservative Presse kennzeichnend. Die begüterten Klassen Deutschlands gehören in der Regel mehr oder weniger dem liberalen Lager an, und bei Konservativen und [antisemitischen] „Reformern“ ist es Brauch, das Kaufmanns- und Bankgewerbe als vergleichsweise entwürdigend und die dort erzielten Einkünfte als unehrenhaft zu beschreiben – ein Gedanke, den sogar Fürst Bismarck zu billigen geruht.
F. William Nassau Jocelyn an den Marquess of Salisbury, Nr. 64, Darmstadt (8. November 1890)
Die öffentliche Stimmung gegen die Juden, die in manchen Teilen Deutschlands so ungeheure Ausmaße angenommen hat, zeigt sich auch im Großherzogtum Hessen und im Besonderen in der Provinz Oberhessen sowie in den Städten Gießen und Mainz, wo anlässlich der letzten Landtagswahlen für jeden Wahlkreis ein antisemitisches Mitglied wiedergewählt wurde.[27]
In Oberhessen ist der Viehhandel fast vollständig in jüdischer Hand, und die Feindseligkeit gegen die Juden, die inzwischen sehr verschärfte Formen annimmt, ist zweifellos bis zu einem gewissen Grad darauf zurückzuführen, dass die Juden, wenn die Bauern ihr Vieh verkaufen, Wucherkonditionen erzwingen und rücksichtslos verhandeln – wobei beide Seiten viel Exklusivhandel betreiben und die Juden, da sie in der Minderzahl sind, schwer unter der anhaltenden und zunehmenden Verbitterung ihrer Gegner zu leiden haben.
Schließlich erreichten die Dinge ein solches Stadium, dass eine Abordnung aus den drei Provinzen des Großherzogtums unter der Führung des Rabbiners der Mainzer Hauptsynagoge[28] ein Ersuchen an den Großherzog richtete und in glühenden und, wie ich weiß, nicht durchweg vertretbaren Worten von dem ihnen widerfahrenen Unrecht berichteten und Seine Königliche Hoheit inständig baten, die Ausübung ihrer legitimen Rechte und Berufe unter seinen Schutz zu stellen.
Die Abordnung wurde vom Großherzog empfangen und die schriftliche Petition ihrer Mitglieder sorgfältig geprüft.
Der Justizminister, Monsieur Finger, wurde angewiesen, ihnen umgehend die Antwort zukommen zu lassen, von der eine Kopie und eine Übersetzung hier beizufügen ich die Ehre habe.
Diese Antwort bringt das Entsetzen und die Abscheu Seiner Königlichen Hoheit über die Behandlung, die ein Teil Seiner Untertanen durch einen anderen Teil erfährt, und den königlichen Appell zum Ausdruck, dass derlei Vorkommnisse schnellstens aufzuhören haben, und enthält zugleich die Mahnung an die Petenten, in Zukunft sorgfältiger darauf zu achten, dass sie denjenigen keinen Grund zur Klage geben, die solchen Grund nur allzu bereitwillig als Rechtfertigung für eine neuerliche Attacke und Verfolgung nutzen werden.
Das Dokument wird von der Presse heftig kritisiert, wie es den von jeder Zeitung hochgehaltenen Grundsätzen entspricht, doch dass der Großherzog die judenfeindliche Partei nur beschränkt tadelt und deren Gegnern einen Teil der Schuld gibt, stößt zwar auf allgemeine Zustimmung, ist aber für den jüdischen Teil der Allgemeinheit nicht sehr angenehm.
Monsieur Finger teilte mir mit, dass die dem Großherzog vorgelegte Petition aufgrund ihrer einigermaßen übertriebenen Aussagen und unmäßigen Sprache nicht veröffentlicht wird.
G. George Strachey an den Earl of Rosebery, Nr. 39, Dresden (10. Dezember 1892)
In den [Dresdner] „Nachrichten“ von heute wird angemerkt, dass der Rektor [Hermann] Ahlwardt vermutlich der beliebteste und der Richter [Georg Robert] Brausewetter der meistgehasste Mann im Reich sei. Hierbei handelt es sich um die natürliche Übertreibung eines judenfeindlichen Organs: Die Nation ist nicht so tief gesunken, dass sie sich zum Beispiel bei einem Plebiszit für den „Rektor aller Deutschen“ aussprechen würde. Allerdings trifft zu, dass Ahlwardts Monomanie in der einen oder anderen Form beinahe die gesamte konservative Wählerschaft ansteckt, wobei die Missgunst gegen die Juden als Ungläubige, als die Börse kontrollierende Kapitalisten, als Zwischenhändler, die sich zwischen Produzent und Käufer drängen, als liberale Journalisten und parlamentarische Wortführer, in der Nationalliberalen Partei nicht ohne Wirkung bleibt. In diesem Königreich sympathisieren die unwissenden unintelligenten Klassen – ich meine den gesamten Adel, die Oberschicht und den Hof (die Königliche Familie ausgenommen) – mit den militärischen und zivilen Dienstgraden, und nicht wenige Kaufleute und besitzende Bauern, vollkommen mit dem „Judenhetzer“. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Gefühle und Ideale des 19. Jahrhunderts verhältnismäßig menschlich sind, könnte man die Stimmung der Judenfeinde des Neuen Deutschland gegenüber dem „unbeschnittenen Hund“ mit jener der Zeitgenossen von Richard dem 1sten und Simon de Montfort vergleichen. In den gesellschaftlichen Kreisen, zu denen ich hier ordnungsgemäß gehöre, ist das Einverständnis mit dem „Judenhetzer“ absolut universell: Gerade erst kürzlich hörte ich einen Vertreter der allerhöchsten lokalen offiziellen Aufklärung die Meinung äußern, dass letzten Endes „wahrscheinlich etwas dran ist“.
Weiterführende Literatur
John St. Loe Strachey, The Adventure of Living: A Subjective Autobiography (1860-1922) (ursprünglich 1922), Projekt Gutenberg, 2002, Kapitel XXVIII. Online verfügbar unter: https://www.gutenberg.org/cache/epub/6567/pg6567.html
Anmerkungen
Jahrbüchern. Treitschke prägte darin den berüchtigten Satz „Die Juden sind unser Unglück.“ (Fußnote von Mößlang und Whatmore)
Quelle: The National Archives, London, UK: Foreign Office files, FO 82 (Stuttgart), FO 68, FO 215 (Dresden), FO 30 (Darmstadt); teilweise nachgedruckt in Markus Mößlang und Helen Whatmore, Hrsg., British Envoys to the Kaiserreich 1871–1897, 2 Bände, Bd. 1, 1871–1883. Cambridge: Cambridge University Press, 2016. Online verfügbar unter: https://www.cambridge.org/core/journals/royal-historical-society-camden-fifth-series/volume/5F056ACE3AF9F8AA0965FC88CBE75926