Kurzbeschreibung

Bundeskanzler Helmut Schmidt, einer der Architekten des Europäischen Währungssystems (EWS), fasst in seiner Rede vor dem Bundestag nochmals die Gründe für dessen Zustandekommen zusammen und erklärt die Unterschiede zum bisherigen System des Währungsverbundes, auch „Währungsschlange“ genannt, das nach dem Zusammenbruch des Bretton Woods Systems* eingeführt worden war. Die ursprüngliche Währungsschlange beabsichtigte, die Bandbreite der Wechselkursschwankungen auf 2,25 % zu begrenzen und somit stabile Wechselkurse zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (EG) zu gewährleisten. Ein übergeordnetes Ziel war es, die Geld- und Kreditpolitik der Mitgliedstaaten zu koordinieren. Das Festschreiben nominaler Wechselkurse genügte allerdings nicht, um dieses Ziel zu erreichen. Die „Schlange“ blieb bis zum 1. Januar 1979 in Kraft. Zu diesem Zeitpunkt wurde sie von dem EWS abgelöst, das Schmidt in seiner Rede beschreibt. Als Teil des EWS wurde eine Europäische Rechnungseinheit, der ECU eingeführt.

*Das Bretton Woods System wurde 1944 in der gleichnamigen Stadt in New Hampshire (USA) ausgearbeitet. Es sah eine Neuordnung der Weltwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Einführung eines Währungsregimes mit festen Wechselkursen vor. Der US-Dollar war die Leitwährung; der US-Dollar war wiederum an den Goldpreis gebunden. Das Bretton Woods System fiel 1971 auseinander, blieb aber offiziell bis 1973 in Kraft. Im Unterschied zur Währungsschlange, die nur die ursprünglich sechs und ab 1973 neun Mitgliedstaaten der EG umfasste, war das System von Bretton Woods ein umfassendes internationales Währungssystem, dem allerdings die kommunistischen Staaten nicht angehörten—Hrsg.

Europäisches Währungssystem (6. Dezember 1978)

  • Helmut Schmidt

Quelle

Regierungserklärung von Bundeskanzler Schmidt über die Ergebnisse des Europäischen Rates in Brüssel am 6. Dezember 1978

[] Nach vielfältigen Arbeiten der letzten Wochen und Monate haben alle neun Mitgliedstaaten gestern in Brüssel gemeinsam beschlossen, dieses System zum 1. Januar 1979 einzuführen. Die Texte sind heute nacht veröffentlicht worden und werden alsbald auch dem Bundestag zur Verfügung stehen.

Dieses Europäische Währungssystem hat, wie ich schon sagte, das Ziel, ein höheres Maß an Währungsstabilität herbeizuführen, und dies sowohl zwischen den einzelnen Währungen als auch für jede einzelne Währung nach innen. Man kann sagen, es sei ein grundlegendes Element in einem umfassenderen Konzept, das auf nachhaltiges Wachstum in Preisstabilität, auf eine schrittweise Rückkehr zur Vollbeschäftigung und auf Verringerung regionaler Disparitäten gerichtet ist.

Dieses gemeinsame Währungssystem wird die wirtschaftspolitische Konvergenz innerhalb der Gemeinschaft erleichtern und dem Prozeß der Europäischen Union Impulse geben. Wir erwarten aber auch, daß dieses System eine stabilisierende Wirkung ausüben wird auf die internationalen, über die Grenzen der Gemeinschaft hinaus gerichteten Wirtschafts- und Währungsbeziehungen. Es wird zweifellos insofern in gleicher Weise im Interesse der Industrieländer wie der Entwicklungsländer liegen.

Wenn ich sagte, daß neun Staaten dies gemeinsam beschlossen haben, so ist zu betonen, daß es bei drei Staaten eine Reservation gibt bezüglich des Mitmachens bei einem bestimmten Teil. Wie erwartet, hat das Vereinigte Königreich erklärt, sich gegenwärtig noch nicht am gemeinsamen Wechselkurs- und Interventionsmechanismus beteiligen zu können. Die italienische Regierung und ebenso die irische Regierung haben erklärt, daß sie Bedenkzeit brauchen, um in ihren Kabinetten und mit den sie tragenden politischen Kräften zu Hause darüber zu beraten, ob sie sich jetzt zum 1. Januar an dem gemeinsamen Wechselkurs- und Interventionssystem beteiligen können. Wir erwarten die Stellungnahme dieser beiden Regierungen im Laufe der nächsten Woche. []

Das unvorhergesehene und bei der Konstruktion des Gemeinsamen Marktes nicht berücksichtigte Auseinanderfallen der Währungen hat eine Reihe von Gefährdungen ausgelöst. Wir haben mit dem – mit dem für den Nichthistoriker kaum noch verständlichen Wort „Schlange" bezeichneten – Währungsverbund versucht, dem entgegenzutreten. Das ist innerhalb einer kleineren Zahl von Gemeinschaftsländern auch möglich gewesen. Diejenigen, die an diesem Währungsverbund, „Schlange“ genannt, nicht teilgenommen haben, sind dabei nicht nur glücklich gefahren.

Man kann die negativen Erfahrungen mit dem Auseinanderdriften der europäischen Währungen am besten belegen, wenn man sich die Statistik anschaut und sieht, wie seit den Währungsunruhen, die seit 1973/74 besonders kräftig geworden sind, der innergemeinschaftliche Wirtschaftsaustausch gegenüber dem außenwirtschaftlichen Austausch außerhalb der Gemeinschaft relativ zurückgeblieben ist. Während von 1957 bis zum Jahre 1973 der Wirtschaftsaustausch innerhalb der Gemeinschaft ständig schneller gewachsen ist als der Weltwirtschaftsaustausch – dadurch drückte sich ja der zunehmende Integrationsprozeß des Gemeinsamen Marktes aus –, ist in den letzten drei, vier Jahren der innergemeinschaftliche Handel gegenüber dem Welthandel relativ zurückgeblieben. Dadurch drückt sich eine quantitativ ins Gewicht fallende Desintegration auf Grund der Währungsverschiedenheiten aus.

Wenn man das noch drei, vier, fünf oder noch mehr Jahre laufen ließe, müßte ich fürchten, daß dadurch nicht nur der gemeinsame Agrarmarkt zerstört würde. Der ist durch den Währungsauseinanderfall schon zerstört. Ihn gibt es in Wirklichkeit nicht. Es gibt nicht denselben Preis für einen Liter Milch oder für ein Pfund Butter in zwei verschiedenen europäischen Ländern; jedenfalls nicht für die Konsumenten, sondern den gleichen Preis gibt es nur für die Rechner. Der Agrarmarkt ist also schon auseinandergefallen. Der Agraraustausch ist heute in Europa schwieriger als vor 50 Jahren. Seinerzeit brauchte man nur Zölle zu bezahlen. Heute muß man unglaubliche Berechnungen anstellen, um zu wissen, was man für ein Pfund Butter verlangen darf.

Über den Zerfall des Agrarmarktes hinaus wäre auch ansonsten der Gemeinsame Markt gefährdet. Bei manchen könnte wohl auch die wirtschaftspolitische Disziplinierung durch die Rücksicht auf die eigene Währung – genauer gesagt: auf die eigene Zahlungsbilanz – abnehmen, so daß die Auseinanderentwicklung in stabile und weniger stabile Volkswirtschaften eher noch zunehmen könnte.

Ermöglicht worden sind die Beschlüsse, die gestern nacht gefaßt wurden und seit einem halben Jahr vorbereitet worden waren, durch ein zunehmendes geldpolitisches Stabilitätsbewußtsein in den Mitgliedsländern. Wenn man sich zum Beispiel die Inflationsraten der europäischen Mitgliedsländer im Jahre 1973 und 1974 anschaut und sie mit den Inflationsraten vergleicht, die all diese Nachbar- und Partnerländer heute erreicht haben, dann ist die Dämpfung der Inflation, die zwar in vielen Fällen nicht ausreicht, gleichwohl doch als ein wichtiger Erfolg der Umkehr des Bewußtseins nicht nur der Regierungen, auch der Parlamente, der öffentlichen Meinung, der Verbände, der Unternehmungen, der Gewerkschaften – wen immer Sie einbeziehen wollen – in jenen Staaten anzusehen.

Das ist bisher eine zwar noch nicht ausreichende, aber doch schon eine gewaltige Umkehr gegenüber der Tendenz der frühen 70er Jahre, als die Inflationsraten steil bergan gingen, zweistellige Ziffern erreichten und zum Teil 20 Prozent pro Jahr betrugen. Hier ist eine Umkehr eingetreten. Dazu hat sicherlich auch die Politik unseres Landes beigetragen. Nur auf der Basis der Umkehr der Tendenz, die die Staaten verfolgen, kann man es wagen, eine solche Währungsgemeinschaft ins Werk zu setzen, wie es hier jetzt geschehen wird. []

Die wichtigsten Aspekte des Wechselkurs- und Interventionssystems stehen in vollem Einklang mit den Forderungen, die die Bundesbank und die Bundesregierung gemeinsam im Laufe des Sommers und des Herbstes aufgestellt hatten.

Ich nenne insbesondere erstens, daß die Interventionsverpflichtungen aller Teilnehmer an den Devisenmärkten, das heißt das Kaufen schwacher Währungen mit eigener Währung oder das Verkaufen starker Währungen gegen eigene Währung, wie zum Beispiel bisher in der „Schlange“, eindeutig bestimmt sind. Diese Verpflichtungen zur Intervention sind eindeutig bestimmt.

Zweitens sind keine Sonderregelungen für den Saldenausgleich in besonderen Fällen vorgesehen.

Daneben enthält das System Elemente, die es ganz deutlich von dem bisherigen Verbund – „Schlange“ genannt – unterscheiden. Dazu gehört erstens die Europäische Währungseinheit, die es bisher nicht gab – ECU genannt –, die gegen Einlage von Gold und Devisen durch die beteiligten Zentralbanken geschaffen wird.

Die Fachleute sprechen hier von ECU I, weil es später, wenn durch ratifikationsbedürftigen Vertrag rechtlich der Europäische Währungsfonds errichtet werden wird, auch ECU II geben wird, die man unter Bedingungen und bei begrenzten Tranchen gegen Einzahlung eigener, nationaler Währungen beim Europäischen Währungsfonds erlangen kann. Soweit ist es also noch nicht.

„ECU“ ist eine französische Aussprache der englischen Abkürzung „European Currency Unit“. Ich habe nichts dagegen, wenn wir uns den Sprachgebrauch „ECU“ angewöhnen sollten. Die Franzosen hören das gerne, sie hatten vor Hunderten von Jahren schon einmal eine Münzeinheit, die so hieß.

Der zweite Unterschied gegenüber der Schlange, den ich vorhin schon nannte, ist der, daß die Länder, die neu beitreten, mit einer großen Marge von ± 6 Prozent für ihre Wechselkurse beitreten können. Ich kann das nicht begrüßen, ich habe es schon angedeutet. Aber es ist ein deutlicher Unterschied.

Der dritte wichtige Unterschied ist der, daß dieses ECU-System, das als ein Cocktail, als ein Korb aus den neun Währungen gebildet wird – in diesen Cocktail werden die Währungen mit verschiedenem Gewicht eingemischt –, zusätzlich zu dem bestehenden Paritätengitter der Wechselkurse als Indikator für Abweichungen dienen wird. Allerdings löst dieser Indikator – ich sagte es schon – keine Verpflichtung zur Intervention aus, wohl aber kann er zum Beispiel die Pflicht zur Konsultation auslösen.

Ich denke, daß zwei Erfahrungen, die sich in dem Wechselkursverbund – „Schlange“ genannt – ergeben haben, sich in dem größeren Teilnehmerkreis erneut bestätigen werden: Die erste Erfahrung ist die, daß Wechselkursstabilität zu größerem Vertrauen aller Beteiligten innerhalb der Volkswirtschaft in die Stabilität der eigenen Währungs- und Geldverhältnisse führt, zu größerem Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Rechenbarkeit betriebswirtschaftlicher Entscheidungen, kaufmännischer Entscheidungen, zu größerem Vertrauen in die Prognostizierbarkeit der Ergebnisse einer wirtschaftlichen oder kaufmännischen Operation, in die man heute eintritt und deren Ergebnisse erst in zwei oder drei Jahren fällig werden.

Zweitens wird sich auch hier das bestätigen, was wir in der Schlange erfahren haben, nämlich größere Solidarität unter den beteiligten Staaten.

Da ich von der „Schlange“ sprach, muß ich hier erwähnen – ich lege Wert darauf –, daß die Regierungschefs der Länder Belgien, Holland, Bundesrepublik Deutschland, Luxemburg und Dänemark gestern nacht festgestellt haben, daß diese „Schlange“ bis zu dem Augenblick, da das neue Währungssystem operationell wird, wie bisher beibehalten und funktionieren wird. Sie haben ebenso festgestellt, daß sie keine Veränderung ihrer Wechselkurse ins Auge fassen. []

Quelle: „Europäisches Währungssystem, Regierungserklärung von Bundeskanzler Schmidt über die Ergebnisse des Europäischen Rates in Brüssel am 6. Dezember 1978“, in Bulletin (Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung), 8. Dezember 1978, Nr. 146, S. 1353–57. Online verfügbar unter: https://www.cvce.eu/content/publication/2001/10/25/14bc5bb8-c6af-43b5-915a-d4544fe4e3ca/publishable_de.pdf