Quelle
Die Leidensgeschichte unseres Stammes und unseres Glaubens ist uralt und sie bleibt sich stets gleich; die Formen jedoch, unter denen sie in die Erscheinung tritt, wechseln je nach den allgemeinen Kulturzuständen der Völker. Man kann sagen, jedes Jahrhundert gebiert eine andere Form von Judenhetze, und es gehört fürwahr ein unzerstörbarer Glaube an die unüberwindliche Macht der sittlichen Entwickelungsfähigkeit im Menschen dazu, um nicht schließlich zu verzweifeln. Dieser Glaube hat uns Israeliten aufrecht erhalten mitten in den schwersten Stürmen, die über uns im Laufe der Jahrtausende hereingebrochen sind, und dieser Glaube an den sittlichen Fortschritt des gesammten Menschengeschlechtes, dieses wahrhaft unveräußerliche Erbtheil unseres Stammes, wird uns auch die Noth der schweren Zeit, in welcher wir leben, ganz sicherlich überwinden helfen. Es wäre unserer ruhmreichen, freilich auch unserer thränenreichen Geschichte unwürdig, kleinmüthig zu verzagen. Israels Wege sind nun einmal thränenschwer. Aber unser Trost liegt in der Geschichte unserer Entwickelung, in der Gewißheit, daß wir schon mit ganz anderen Gewalten fertig geworden sind, als mit dem zusammengelesenen Gelichter, moderner Judenhetzer. Auch für uns ist das Wort geschrieben: „Und die Pforten der Hölle, das heißt der Bösen, werden dich, Israel, nicht überwinden!“
Der Anblick, den die Gegenwart für uns darbietet, ist freilich ein sehr schmerzlicher und gar empfindlich sind die Kränkungen, denen unsere Glaubensgemeinschaft dermalen in Deutschland ausgesetzt ist, um so empfindlicher, je gesteigerter im Allgemeinen unser Ehrgefühl, unser Bewußtsein der Zugehörigkeit zu der Gesammtkultur des Zeitalters entwickelt ist. Von den Tagen Moses Mendelssohns und Gotthold Ephraim Lessings an bis auf unsere Zeit haben die deutschen Israeliten das Streben gezeigt, in immer stärkerem Maße Theil zu nehmen an der Entwickelung deutschen Geisteslebens. Wie nirgendwo anders auf Erden hat gerade in Deutschland solch eine befruchtende Wechselwirkung stattgefunden. Es ist kein Zufall. daß die Wiedergeburt der Wissenschaft vom Judenthum sich in Deutschland vollzogen hat. Die kritische Methode des deutschen Geistes, sie hat wie ein zündender Funke eingeschlagen in die jüdischen Köpfe und sie hat es bewirkt, daß die moderne Wissenschaft vom Judenthum auf die Wurzeln der deutschen Kritik im Allgemeinen zurückgeführt werden muß. Andererseits ist es ebenso wenig ein bloßer Zufall, daß gerade in denjenigen Gebieten menschlichen Schaffens, in denen sich das deutsche Gemüth am Edelsten entfaltete, nämlich in der dichterischen und in der musikalischen [unlesbar im Original] gleichfalls so hervorragende Leistungen aufzuweisen [unlesbar im Original]. Es hatte eben eine innigste Durchdringung dieser beiden von Haus aus gemüthsverwandten Elemente stattgefunden. Der den deutschen Israeliten innewohnende Geist schien gleichsam nur der Erlösung aus dem Banne zu harren, um sich sofort mit dem ihm verwandten deutschen zu verbinden, sich mit ihm zu durchdringen. Es giebt kein zweites Beispiel in unserer ganzen Geschichte; auch in Spanien nicht. Eine geistige Durchdringung der beiden Elemente, wie in Deutschland seit beinahe anderthalb hundert Jahren, hat dort nicht stattgefunden. Es würde natürlich den Rahmen eines Zeitungsartikels weit überschreiten, wollte man diesen Gedanken ins Einzelne durchführen. Die Andeutung mag daher genügen. Trotz alles Lärmens einer großen Zahl antisemitischer Tageshelden ist und bleibt es eine unbestreitbare völkerpsychologische Wahrheit, daß deutsche und jüdische Denk- und Empfindungsweise in tiefstem Grunde einander verwandt sind. Wer weiß, ob nicht gerade in dieser Menge von Berührungspunkten der wahre Grund der Abneigung gefunden werden mag. Vielleicht gilt das Gesetz von der Abstoßung gleichnamiger Pole auch in der moralischen Welt.
Doch sei dem, wie ihm wolle. Die empfindliche Krankung, welche die gegenwärtige Bewegung für uns deutsche Israeliten hat und haben muß, liegt aber in dem Umstande, daß wir wissen, wir sind eines Geistes mit dem deutschen Volke und daß man trotzdem eine Scheidewand aufrichten will, um uns hinter die Zeit von Moses Mendelssohn zurückzudrängen. Denn das und nichts Anderes ist das Ziel unserer erbitterten Feinde. Sie wollen uns unsern Antheil an dem Kulturleben des deutschen Volkes rauben, den mißgönnen sie uns mehr noch als die vermeintlich unermeßlichen Schätze einiger jüdischer Großkapitalisten und Großhändler. Aber diesen unseren Antheil an dem unzerstörbaren deutschen Idealismus werden wir uns nicht rauben lassen! Auch der deutsche Idealismus zeigt ja dermalen einige recht bedenkliche blind gewordene Stellen. Aber das wird vorübergehen, und wenn er dann wieder in seiner die gesammte Welt umspannenden Klarheit und Helligkeit leuchtet, dann wird es auch mit dem Nachtgespenst der Judenhetze in Deutschland vorüber sein.
Allein wir dürfen diesem Entwickelungsprozeß gegenüber nicht in Unthätigkeit verharren; wir dürfen diesen Zeitpunkt nicht einfach mit verschränkten Armen erwarten. Vielmehr ist es unsere Pflicht, den Kampf gegen unsere Feinde mit allen erlaubten Mitteln aufzunehmen. Thun wir dies, so erfüllen wir nicht nur eine Pflicht gegen uns selber, sondern auch gegen die Allgemeinheit. Denn der Kampf, den unsere Feinde uns aufgedrungen, ist ein Kampf um die Behauptung eines nach unsäglichen Mühen endlich errungenen Rechtes, nämlich des Rechtes der staatsbürgerlichen Gleichheit der Bekenner aller Religionen! Dieses Recht ist ein kostbares Gut des gesammten deutschen Volkes und nicht blos der deutschen Israeliten. Dieses Recht muß ein unveräußerliches, ein unantastbares bleiben. Und dafür zu sorgen, daß dem so sei, das ist unsere Aufgabe in dieser schweren Zeit. Indem wir also für die Behauptung eines errungenen Rechtes unsere moralischen und geistigen Kräfte einsetzen, treten wir zugleich in einen Kampf um das Recht überhaupt ein. Wir erfüllen somit ein allererstes Gebot der allgemeinen Sittlichkeit.
Hierüber kann unseres Dafürhaltens nicht der mindeste Zweifel bestehen. Wohl aber gehen die Meinungen über die Mittel aus einander, wie dieser Kampf zu führen sei. Man hat hie und da uns den Rath gegeben, daß es nothwendig sei, für eine Vertretung spezifisch jüdischer Interessen in den Parlamenten der Einzelstaaten, also vornehmlich in Preußen, und in dem deutschen Reichstage zu sorgen [unlesbar im Original]. Verkehrteste von Allem, was geschehen könnte. Die Verfassung kennt nur Vertreter des gesammten Volkes und keinerlei Vertreter irgend welcher Sonderinteressen. Wir würden durch eine derartige Interessenvertretung die moralische Stärke unserer Position innerhalb der Allgemeinheit ganz beträchtlich herabmindern. Es handelt sich in diesem ganzen Kampfe nicht sowohl um jüdische als vielmehr um Rechtsinteressen, und zwar um Rechtsinteressen allererster Art. Freilich sind wir Israeliten an der Geltendmachung dieser Interessen vor allen übrigen Staatsbürgern betheiligt. Alle diejenigen Mitglieder unserer Parlamente, denen die Parteileidenschaft nicht den Sinn für das Recht getrübt, sind die geborenen Vertreter unserer israelitischen Interessen, insofern dieselben staatsbürgerlicher Art sind, und insofern dieselben durch die Machenschaften unserer Gegner als gefährdet erscheinen.
Allein es giebt für uns Israeliten außer den staatsbürgerlichen Rechten, deren Schmälerung die Bestrebungen einzelner Parteien bezwecken, noch andere Interessen, die uns lediglich als die Zugehörigen zu einer scharf ausgesprochenen Glaubensgenossenschaft betreffen. Für die Geltendmachung dieser Interessen müssen wir selber eintreten. Hier kann und soll kein Anderer für uns eintreten. Hier müssen wir selber auf uns stehen und offen vor das deutsche Volk hintreten und ihm sagen, was wir inmitten der deutschen Volksgemeinschaft sind und zu bedeuten haben, und was wir zu fordern gewillt und berechtigt sind. In öffentlicher Versammlung, in welche wir Israeliten unsere Vertrauensmänner hineinsenden, soll ausgesprochen werden, wie die Zustände innerhalb der israelitischen Glaubensgenossenschaft Deutschlands beschaffen sind. Aus derartigen, von kundigen und unbefangenen Männern gegebenen Darstellungen werden sich mit Nothwendigkeit allerhand Reformvorschläge ableiten lassen, deren Durchführung alsdann weiteren Generalversammlungen überlassen werden muß.
Unseres Dafürhaltens sollten die maßgebenden Männer unter den Israeliten Deutschlands nicht zögern, die zur Zusammenberufung einer solchen Generalversammlung erforderlichen Vorarbeiten in Angriff zu nehmen. Es ist hohe Zeit, daß etwas geschehe, daß die Gleichgiltigkeit oder die Resignation, welche sich bereits vieler Kreisen unserer Glaubensgenossenschaft bemächtigt haben, einer erfrischenden Thatenlust, einer befreienden Arbeit für die bedrohte Gesammtheit Platz machen. Wie die Dinge bei uns nun einmal liegen, sind sogar die von unserer Glaubensgemeinschaft abgefallenen Glieder an diesen unseren Kämpfen betheiligt, und es ist eitel Selbsttäuschung, dieses leugnen zu wollen.
Mögen unsere Worte einen lauten Widerhall finden in allen Herzen unserer deutschen Israeliten! Möge es uns beschieden sein, noch in diesem Jahre von den Verhandlungen der ersten Generalversammlung deutscher Israeliten Kunde zu erlangen. An geeigneten Männern, auf jener Generalversammlung ein gewichtiges Wort vernehmen zu lassen, fehlt es uns wahrlich nicht. Ist aber daran zu zweifeln, daß ernste, beherzigenswerthe Worte, von solch hervorragender Stelle verkündet, nicht auch willigen Eingang in die Herzen und Gemüther unserer Glaubensgenossen finden werden? Aber nicht blos auf die deutschen Israeliten, nein, auch auf das gesammte deutsche Volk wird eine derartige Kundgebung zweifellos ihre gute Einwirkung ausüben. Darum rufen wir nochmals unseren Männern in Israel zu: Tretet zusammen und verkündet allem Volke, was wir in Deutschland sind und was wir sein und bleiben wollen.
Quelle: Dr. J. Kastan, „Eine Generalversammlung deutscher Israeliten“, Allgemeine Zeitung des Judenthums. 31. März 1893, S. 148–9. Online verfügbar unter: https://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/3271229