Quelle
VERTRAULICH
BERICHT
Frau Lily Offenbacher, 4802 43rd Street, Woodside, Long Island City, ist die jüdische Witwe eines Mannes, der mit „Der gerade Weg“ in Verbindung stand, einer von Dr. Fritz Gerlich herausgegebenen und von den Jesuiten unterstützten katholischen Zeitung in München, die den Nazis von 1932/33 gegenüber sehr kritisch eingestellt war. Sie geriet daher sofort nach der Machtübernahme durch die Nazis im März 1933 unter Beschuss. Dr. Gerlich wurde im Gefängnis ermordet.
Frau Offenbacher wurde uns von Herrn Flügge empfohlen und von Mrs. Stewart befragt. Sie macht einen sehr verlässlichen Eindruck, und ihre Aussagen scheinen korrekt zu sein. Sie selbst ist noch ziemlich nervös, da sie kurz vor ihrer Abreise aus Deutschland im Gefängnis war. Sie gibt Folgendes zu Protokoll:
„Ich habe Deutschland im Juni verlassen. Ich flog zuerst nach Lissabon und setzte meine Reise per Schiff fort. Ich konnte nicht eher aus Deutschland ausreisen, weil ich mich um meine kranke Mutter kümmern musste, die in der Zwischenzeit gestorben ist. Ich wollte auch meinen alten Vater mit mir nehmen, und wir hatten endlose Schwierigkeiten mit unseren Pässen.
Während der vergangenen zwei Jahre habe ich ununterbrochen versucht, mir Informationen über die deutsche Kriegsindustrie zu beschaffen. Ich habe verlässliche Informationen über München und Umgebung. Diese Informationen könnten der R.A.F. nützlich sein, denn während der Luftangriffe auf München im vergangenen August und September und erneut am 8. November wurde keine einzige Militäranlage getroffen. Ich habe seither erfahren, dass außerhalb Deutschlands berichtet wurde, die Angriffe hätten BMW gegolten; sollte es einen solchen Plan gegeben haben, dann war er ein totaler Fehlschlag. Die getroffenen Ziele umfassten: das Restaurant Bauerngirgl; das Wohngebiet im Stadtzentrum; das Haus des Eisenwarenhändlers Dandl, dessen Haus gegenüber dem Sternecker Bräu liegt, wo sich die Nazis zum ersten Mal trafen. War der Bräu das Ziel, so ging der Angriff knapp daneben. In München fielen mehrere Bomben auf den Englischen Garten und den Bayernring.
Die wichtigsten Orte neben BMW (das anscheinend überhaupt nicht getarnt war) sind die große Munitionsfabrik in Wolfratshausen; die Eismaschinenfabrik von Linde in Höllriegelskreuth, beide im Isartal südlich von München, die neue Fabrik am Ostfriedhof und schließlich der große Munitionsbetrieb Friedrich Deckel in Mittelsendling. Die Fabrik in Mittelsendling erzeugt wichtige Gewehr- und Kanonenbestandteile, hauptsächlich mechanische Federn u.s.w.
Die Wolfratshausener Fabrik wurde 1935 errichtet und ist vollständig unterirdisch. Lediglich Eisenbahnschienen und Kräne sind oberirdisch und sie sind gut verborgen zwischen den hohen Bäumen der umgebenden Wälder. Die dort tätigen Arbeiter sind überwiegend nach Abbüßung eines Teils ihrer Strafe aus der Haft entlassene und für den verbliebenen Teil zwangsverpflichtete Häftlinge. Sie leben auf dem Gelände, das von einem Stacheldrahtzaun umgeben ist. Die Fabrik, welche die größte in Süddeutschland sein soll, liegt zwischen der Isar und Loisach. Ruderern ist es verboten, dort an Land zu gehen. Ich habe es trotzdem getan.
Die Eismaschinenfabrik von Linde hat seit Kriegsbeginn überaus viel zu tun. Sie produzieren dort angeblich kleine Gasbomben, die als Zünder für größere Bomben Verwendung finden. Es gibt auch Gerüchte, dass diese Gasbomben bei der Eroberung französischer Forts eingesetzt wurden. Ein weiteres hartnäckiges Gerücht will wissen, dass dort irgendeine Art von Giftgas erzeugt wurde, das ganze Menschengruppen bewusstlos machen kann. Alle französischen Kriegsgefangenen im ganzen Land, von denen man meinte, sie seien im Allgemeinen gut behandelt worden, gaben auf die Frage nach den Umständen ihrer Festnahme an, sie wüssten nicht, was geschehen war, und sie seien in München nach tiefem Schlaf erwacht. Dieses Detail wurde von deutschen Soldaten erhärtet, die aussagten, sie hätten vor den Forts Kühe grasen sehen, die ohne ersichtlichen Grund plötzlich umfielen.
Auch neben dem Ostfriedhof gibt es eine vollkommen neue, als Siedlung getarnte Munitionsfabrik. Die kleinen Häuser in der Nähe des Kirchhofs sind eine hervorragende Nachbildung einer Polizeiansiedlung. Nur wenige Menschen sind sich des wahren Charakters dieser Häusergruppe bewusst.
Das große Militärflugfeld befindet sich nicht mehr in Schleißheim, sondern in Riem.
In Puchheim, der nächsten Bahnstation nach Germering, wurde eine Fabrikattrappe errichtet. Durch die Installation einer elektrischen Feueranlage bekam hier eine Müllkippe das Aussehen einer Fabrik. Soweit ich weiß, wurde sie noch nicht bombardiert.
Östlich des Bahnhofs Baierbrunn befindet sich auch eine Flugtestanlage mit einem riesigen getarnten Hangar.“
Frau Offenbacher wird eine Skizze von den Orten anfertigen, über die sie berichtet. Sie hat auch Beweise, dass Tausende Insassen von Heimen für Geistesgestörte getötet wurden. Sie scheinen anstelle von Versuchskaninchen für Vivisektionsexperimente zur Wirkung von Gas gedient zu haben. Die als geisteskrank diagnostizierten Patienten wurden zumeist mit dem Autobus an einen unbekannten Ort oder nach Linz gebracht, wo sich ein großes Heim für Geistesgestörte befindet. Ein paar Wochen darauf wurde den Verwandten eine Urne mit ihrer Asche zugestellt, und die Anstalt, von der die Patienten weggebracht wurden, erhielt deren Kleidung. Nach der einhelligen Aussage von Krankenschwestern und Ärzten waren diese Kleider mit dem Geruch von Gas kontaminiert. Frau Offenbacher hat darüber und über andere Vorkommnisse an der deutschen Heimatfront, die sie zu veröffentlichen hofft, noch mehr Details zu berichten. Sie verfügt über geringe finanzielle Mittel. Sie ist bereit, diese zusätzlichen Informationen auch uns zur Verfügung zu stellen, wenn eine britische Organisation sie veröffentlichen will. Sie interessiert sich sehr für die militärische Ausbildung, am liebsten in der Luftwaffe in einer der britischen Truppen, die Ausländer akzeptieren. Sie ist eine erfahrene Kraftwagenfahrerin und im Besitz mehrerer Preise von Autorennen.
BERICHT ÜBER GNADENTOD
Frau Offenbacher (Olsen) vervollständigt ihren Bericht:
„Ich vergaß zu erwähnen, dass Ecke Galerie/Prinzregentenstraße in der Nähe des Prinz-Carl-Palais (ehemalige österreichische Delegation) ein besonders gut gebauter Luftschutzbunker errichtet wurde. Die meisten wichtigen Staatsfunktionen finden im Prinz-Carl-Palais statt.
Wie erwähnt, habe ich schlüssige Beweise für den sogenannten ‚Gnadentod‘. Im Juli 1940 kursierten die ersten Gerüchte, dass geisteskranke jüdische Personen nicht mehr von Irrenanstalten aufgenommen wurden. Die Verwandten von Patienten, die sich bereits in einer solchen Einrichtung befanden, konnten den Aufenthaltsort dieser Patienten nicht in Erfahrung bringen. Die einzige Antwort auf wiederholtes Nachfragen war, dass alle Patienten nach Eggelfing geschickt wurden, eine Anstalt für Geistesgestörte, oder nach Linz, wo sich eine andere Einrichtung ähnlicher Art befindet. Wegen des in den vergangenen Jahren in Deutschland herrschenden Drucks mussten viele Familien Verwandte in Irrenanstalten unterbringen. Deshalb wurde das Schicksal dieser Menschen überall diskutiert. Einem Gerücht zufolge waren sie alle nach Polen gebracht worden. Alle hielten eine solche Entwurzelung von Patienten, deren einziger Trost eine gewisse Routine und ein geregelter Tagesablauf ist, für äußerst grausam. Ich interessierte mich sehr für das Schicksal dieser Patienten und versuchte, nähere Einzelheiten zu erfahren. Ich besuchte eine Freundin, die Patientin in einem Privatsanatorium war. Sie war weder nervös noch neurotisch, bloß sehr empfindlich, und lebte schon seit mehreren Jahren in diesem privaten Sanatorium, wo man gut für sie sorgte. Sie war sehr beunruhigt und erzählte mir, dass ein geisteskranker jüdischer Mann in einem Autobus weggebracht worden war. Man sagte ihnen, dieser Mann sei nach Eggelfing gekommen. Der Mann, der den Patienten abgeholt hatte, hatte mit niemandem gesprochen und auf alle einen höchst unangenehmen Eindruck gemacht. Der Patient hatte seit Jahren in dem Sanatorium gelebt und war sehr beliebt. Sein Lieblingsausspruch war: ‚Ich bin nicht arisch, aber trotzdem blöd‘. Wegen seiner Beliebtheit versuchten seine Pfleger und Pflegerinnen, ihn an ihrem freien Tag in Eggelfing zu besuchen. Sie wurden nicht zu ihm vorgelassen und wirkten bei ihrer Rückkehr sehr besorgt. Meine Freundin sagte mir, dass er der einzige Patient war, der auf diese Weise verschwunden war, während alle anderen jüdischen Patienten vier bis sechs Wochen vor Eintreffen des Busses, der sie abholen sollte, entlassen worden waren. Der Chefarzt ist als begeisterter Nazi bekannt. Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, dass er wusste, was bevorstand, und seine Patienten retten wollte, wahrscheinlich in erster Linie, um sie sich als zahlende Gäste zu erhalten. Mehrere Personen versuchten herauszufinden, was mit Patienten geschehen war, die sie in die Obhut privater Sanatorien gegeben hatten. In einem Fall erhielt ein Arier, der sich nach einer jüdischen Verwandten erkundigte, einen Brief von der Oberin des Privatsanatoriums, in dem sie ihm mitteilte, seine Verwandte sei auf Anordnung der Regierung weggebracht worden. Sie konnte ihm nichts anderes sagen, wollte aber für die Patientin, die sie sehr gern gehabt hatte, beten. Eines Tages im Juli oder August 1940 erhielt er die Sterbeurkunde seiner Verwandten, zusammen mit einer Urne mit ihrer Asche. Es war ihm nicht möglich, irgendetwas über die Todesursache in Erfahrung zu bringen. Die Oberin des Sanatoriums wusste nichts außer der Tatsache, dass die Patientin abgeholt wurde und man dann die Urne erhielt. Mehrere meiner Freunde machten ähnliche Erfahrungen. Zuerst hörten wir nur vom Verschwinden der jüdischen Geisteskranken, aber ab Mitte September 1940 erhielten meine arischen Freunde ähnliche Nachrichten über ihre Verwandten. Diese Arier gehörten mehrheitlich den ärmeren Schichten an. Üblicherweise musste der Staat für die Kosten ihrer Unterbringung im Irrenhaus aufkommen. Ich habe auch von einem zahlenden arischen Patienten gehört, der auf dieselbe Weise verschwand, das scheint aber eine Ausnahme gewesen zu sein. Niemand konnte sich vorstellen, warum diese Personen ums Leben kamen, da es keine Nahrungsmittelknappheit gab. Im Februar 1941 habe ich von einem schlimmen Fall von Unterernährung in einem Irrenhaus gehört, der zum Tode führte, aber es handelte sich um einen Einzelfall. Normalerweise gab es genug zu essen. Man musste deshalb davon ausgehen, dass der Grund für die Tötungen militärischer Natur war. Alle schienen zu glauben, dass sie in Experimenten getötet wurden, in denen sie als Versuchskaninchen dienten, um die Wirkung von Giftgas zu testen. Diese Gerüchte wurden durch die Krankenschwestern und Ärzte der Anstalt bestätigt, die alle dieselbe Geschichte erzählten; man habe ihnen die Kleidung, in der die Patienten weggebracht wurden, verkehrt übergeben, also Unterhemd oder Hemd außen, Mantel oder Kleid innen, so als ob diese Kleider der Person in Eile über dem Kopf ausgezogen worden seien. Alle Kleidungsstücke hatten einen sehr unangenehmen süßlichen Gasgeruch. Was mich am meisten schockierte war, dass Menschen, die keine Verbindung zu den Opfern hatten, nicht spürten, wie grässlich unmenschlich dieser Vorgang war. Ganz nette Leute, mit denen ich sprach, hielten es für ganz vernünftig, den Staat zu entlasten und gleichzeitig wertvolle Informationen darüber zu erhalten, wie man den Krieg gewinnen könne. Erst als ich ihnen über besonders grausame Einzelfälle erzählte, schienen sie zu begreifen, dass etwas Unmenschliches geschehen war.
Hier sind einige der Fälle: Eine jüdische Mutter hatte sich geweigert auszuwandern, um ihren Sohn in einer Irrenanstalt alle 14 Tage während der Besuchszeit sehen zu können. Ihr Sohn wurde ermordet.
Die Frau eines sehr bekannten Juden in München, die an Anfällen von Kleptomanie litt, wurde beim ersten Anzeichen eines solchen Anfalls seit Jahren für einen kurzen Zeitraum nach Eggelfing gebracht. Danach kehrte sie stets zu ihrer Familie zurück und führte bis zum nächsten Anfall ein normales Leben. Ihr Mann hatte sie eben für ein paar Tage in Eggelfing untergebracht, als sie abgeholt wurde. Einige Wochen später erhielt er die Sterbeurkunde.
Eine andere Patientin, mit der ich entfernt verwandt bin, unterzog sich lediglich einer Insulinbehandlung und galt als fast geheilt, als sie verschwand und ihre Verwandten danach die Sterbeurkunde erhielten.
Ein anderer Fall ging für die Patientin besser aus. Ein Mädchen, das bemerkte, dass etwas Ungewöhnliches im Gange war, als der Bus kam, um sie und ihre Mitpatienten wegzubringen, flüchtete. Ihre Flucht blieb unbemerkt, und sie lebte ruhig bei ihren Eltern, als diese ihre Sterbeurkunde und die Urne mit der Asche erhielten.
Die Vorkommnisse glichen sich in allen Anstalten. Krankenschwestern, die wegen Patientenmangel entlassen wurden, verglichen ihre Aufzeichnungen, die alle dieselben Tatsachen enthielten.
Ich habe niemals Todesanzeigen der Art, wie Schirer sie nachdruckt, in den Zeitungen gefunden. Aber der Grund dafür ist, wie ich glaube, dass Juden keinerlei Anzeigen in Zeitungen setzen dürfen, und meine Freunde entweder jüdisch waren oder sehr arm.
Es gab auch eine andere Art von ‚Gnadentod‘. Die Opfer waren schwer verwundete Soldaten, für die der Staat lebenslang aufkommen hätte müssen. Eine Ärztin erzählte mir von einem solchen Fall: Eine Freundin war von ihrem Mann in das Krankenhaus gerufen worden, in dem er Patient war. Er war sehr beunruhigt über den Umstand, dass er in eine Krankenstation gebracht worden war, in der jede Nacht einer seiner Mitpatienten starb. Er flehte seine Frau an, ihn aus dem Krankenhaus zu nehmen, da er bis dahin nicht den Eindruck hatte, gefährlich krank zu sein. Seine Frau setzte ihren Einfluss und ihr Geld ein, und man erlaubte ihr schließlich, ihn nach Unterzeichnung einer Erklärung mit nach Hause zu nehmen, in der sie versprach, dass weder sie noch er in Zukunft Unterstützungszahlungen vom Reich beanspruchen würden.
Leicht verwundete Soldaten wurden vom Staat sehr gut behandelt, von der Öffentlichkeit aber eher ignoriert. Das zeigt die Kriegsmüdigkeit der Menschen. Niemand bietet einem Kriegsversehrten in der Straßenbahn einen Sitz an oder äußert auf andere Weise Sympathie, wie es während des letzten Krieges der üblich war.“
Quelle: Lily Offenbacher teilt dem U.S. „Coordinator of Information“ ihr Wissen über das „Euthanasieprogramm“ mit (September 1941), U.S. National Archives and Records Administration, College Park, MD, Record Group 226, Entry 16, Box 3, Dokumente 514 und 516.