Kurzbeschreibung

Um internationale Kritik und eine Entfremdung der allgemeinen Bevölkerung zu vermeiden, hatte die NS-Regierung während der ersten Jahre versucht, die Wellen von öffentlicher Gewalt gegen Deutschlands Juden und sonstige willkürliche Pöbeleien und Übergriffe einzudämmen. Stattdessen hatte Hitler den nationalsozialistischen Antisemitismus zunehmend in juristische Bahnen gelenkt, um die jüdische Bevölkerung durch diskriminierende Gesetzgebung sozial und wirtschaftlich zu isolieren und zur Emigration zu bewegen. Obwohl bis 1938 circa 250.000 Juden Deutschland verließen, frustrierte diese Politik die radikalsten Elemente der Partei und Regierung, die eine sofortige Lösung der sogenannten Judenfrage forderten.

Aufgrund bestehender Befürchtungen von Seiten Polens, dass die in Deutschland lebenden polnischen Juden angesichts des zunehmenden deutschen Antisemitismus in ihre Heimat zurückkehren würden, erklärte die polnische Regierung im März 1938, dass im Ausland lebende polnische Staatsbürger, die bis zum 31. Oktober des Jahres ihre Pässe nicht erneuern ließen, ihre Staatsbürgerschaft verlieren würden. Für die etwa 70.000 in Deutschland lebenden polnischen Juden hätte dies bedeutet, dass sie weder nach Polen zurückkehren noch in ein anderes Land emigrieren konnten. Außenminister Joachim von Ribbentrop forderte daher polizeiliche Maßnahmen gegen die in Deutschland lebenden polnischen Juden. In der Nacht vom 28. Oktober 1938 verhaftete die Gestapo ca. 17.000 Juden polnischer Herkunft, um sie nach Polen zu deportieren. Polen schloß jedoch am 31. Oktober seine Grenzen, sodass der Großteil der Deportierten im Niemandsland jenseits der östlichen Reichsgrenze bei Zbaszyn (Bentschen) ausgesetzt wurde. Da die polnische Regierung ihre Aufnahme zunächst verweigerte, mussten sie unter katastrophalen Lebensbedingungen wochenlang ausharren, bis ihre Situation geklärt wurde.

Nachdem der in Paris lebende siebzehnjährige Herschel Grynszpan (auch „Grünspan“ nach deutscher Schreibweise), Sohn einer der betroffenen Familien, vom Schicksal seiner Eltern erfuhr, beschloss er, durch ein spektakuläres Attentat die Welt auf das Leid der jüdischen Opfer des NS-Regimes aufmerksam zu machen. Am Morgen des 7. November betrat er die deutsche Botschaft in Paris und schoss auf den Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath, der zwei Tage später seinen Verletzungen erlag. Schon am 7. und 8. November war es in Deutschland zu einigen SA- und SS-geleiteten Ausschreitungen gegen jüdische Personen und Einrichtungen gekommen. Als Hitler vom Tod des Diplomaten erfuhr, ermächtigte er Goebbels, ein reichsweites Pogrom zu inszenieren. Es sollte der Welt als ein spontaner Ausbruch der Empörung der deutschen Bevölkerung über das jüdische Verbrechen präsentiert werden. Noch in der gleichen Nacht entfesselten SA und SS eine Welle der Gewalt und Zerstörung über ganz Deutschland, in deren Verlauf tausende Synagogen, jüdische Geschäfte, Fabriken, Wohnungen und Häuser zerstört und geplündert wurden.

Wie aus dem folgenden Augenzeugenbericht des US-Konsuls Samuel Honaker ersichtlich wird, gelang es dem NS-Regime nicht, das Bild von der spontanen Volkserhebung gegen die Juden vor den Augen der Welt aufrechtzuerhalten.

Die Beschreibung der antisemitischen Verfolgung und der „Kristallnacht“ sowie ihrer Folgen in der Region Stuttgart durch den amerikanischen Konsul Samuel Honaker (November 1938)

  • Samuel Honaker

Quelle

I. Brief an Hugh R. Wilson, Amerikanische Botschaft, Berlin

Amerikanisches Konsulat
Stuttgart, Deutschland, 12. November 1938

Nr. 307
Betreff: Antisemitische Verfolgung im Stuttgarter Konsularbezirk

The Honorable Hugh R. Wilson, Amerikanischer Botschafter, Berlin

Sir:

Ich habe die Ehre, Ihnen Bericht zu erstatten von den Schicksalsschlägen, die die Juden Südwestdeutschlands in den letzten drei Tagen erlitten haben und die dem Bewohner eines aufgeklärten Landes im 20. Jahrhundert irreal erscheinen würden, hätte man die schrecklichen Erfahrungen nicht selbst miterlebt und wären diese nicht durch mehr als eine Person von unbestreitbarer Integrität bestätigt worden. Zur Seelenpein, der die Juden in diesem Konsularbezirk seit geraumer Zeit ausgesetzt sind und die sich am Vor- und Nachmittag des 10. November schlagartig zuspitzte, kamen das Grauen der mitternächtlichen Festnahmen, des überstürzten Aufbruchs in Polizeibegleitung in halb angekleidetem Zustand, des Klagens der so plötzlich allein gelassenen Frauen und Kinder, der Unterbringung in überfüllten Zellen und der Panik der Mitgefangenen.

Diese Massenverhaftungen stellten die Zuspitzung eines leidvollen Tages für die Juden dar. Das Entweihen und Anzünden der Synagogen setzte vor Tagesanbruch ein und hätte ein Warnsignal sein sollen für das, was in den darauf folgenden Stunden kommen sollte. Um 10.30 Uhr wurden etwa 25 Führer der Jüdischen Gemeinde von einem gemeinsamen Kommando von Polizisten und Männern in Zivil festgenommen. Die verhafteten Personen waren zwischen 35 und 65 Jahre alt und wurden in zwei Kraftwagen vom Israelitischen Oberrat zum Polizeirevier gebracht. Auf dem Weg vom Gebäude zu den Autos wurden die Opfer von Schaulustigen beschimpft und angeschrieen.

Andere Festnahmen fanden in Stuttgart an verschiedenen Orten statt. Während Stuttgart den ganzen Tag über Schauplatz vieler antisemitischer Bekundungen war, wurden ähnliche Vorkommnisse aus ganz Württemberg und Baden gemeldet. Hier wie dort kam es zu Übergriffen auf Juden. In der Zwischenzeit war die Panik der jüdischen Bevölkerung so stark angewachsen, dass Juden aus allen Teilen Deutschlands bei der Öffnung des Konsulats nach dem Tag des Waffenstillstands[1] das Büro stürmten, bis es vor Menschen überquoll. Sie bettelten um ein sofortiges Visum oder um ein Schreiben im Zusammenhang mit ihrer geplanten Auswanderung, das sie vor der Verhaftung und Belästigung durch die Polizei schützen könnte. Frauen über sechzig flehten im Namen ihrer an irgendeinem unbekannten Ort festgehaltenen Männer. Amerikanische Mütter deutscher Söhne appellierten an die Sympathie des Konsulats. Jüdische Väter und Mütter mit Kindern im Arm hatten Angst, ohne ein Papier, das ihre baldige Auswanderung bestätigte, nach Hause zu gehen. Männer, in deren Häusern in den vergangenen Tagen alte rostige Revolver gefunden worden waren, schrieen, dass sie es nicht wagten, an ihre Wohnorte oder Arbeitsplätze zurückzukehren. Es war in der Tat eine brodelnde Masse von Panik erfasster Menschheit.

Brennende Synagogen

Am frühen Morgen des 10. November waren praktisch alle Synagogen – mindestens jedoch zwölf an der Zahl – in Württemberg, Baden und Hohenzollern von gut organisierten und anscheinend bestens ausgestatteten jungen Männern in Zivil in Brand gesteckt worden. Das Vorgehen nahm praktisch in allen Städten der Region denselben Ablauf, namentlich in Stuttgart, Karlsruhe, Freiburg, Heidelberg, Heilbronn und so weiter. Die Türen der Synagogen wurden aufgebrochen. Bestimmte Teile des Gebäudes und der Einrichtung wurden mit Benzin übergossen und angezündet. Bibeln, Gebetbücher und alle heiligen Gegenstände wurden in die Flammen geworfen. Danach verständigte man die örtliche Feuerwehr. In Stuttgart ordneten die Stadtoberen der Feuerwehr an, die Archive und anderes schriftliches Material im Zusammenhang mit der Bevölkerungsstatistik zu retten. Ansonsten beschränkte sich die Feuerwehr darauf, zu verhindern, dass sich das Feuer ausbreitete. Innerhalb weniger Stunden waren die Synagogen mehr oder weniger ein Haufen rauchender Ruinen.

Verwüstung jüdischer Geschäfte

Praktisch alle jüdischen Geschäfte im Stuttgarter Konsularbezirk wurden nachweislich angegriffen, geplündert und verwüstet. Diese Handlungen wurden von jungen Männern und halbwüchsigen Burschen ausgeführt. Unter der Zivilkleidung ersterer konnte man leicht die geschulten und organisierten SA- und SS-Männer erkennen, während bei letzteren in manchen Fällen die Uniform der Hitlerjugend gesehen wurde. Die jungen Männer erfüllten ihre Aufgabe überwiegend ruhig und effizient. Zuerst zerschlugen sie die Schaufenster, zerstörten die Einrichtung und begannen dann, die Waren auf die Straße zu werfen. Währenddessen stand die Polizei entweder lächelnd oder unbeteiligt daneben.

Die meisten jüdischen Läden in Stuttgart liegen im Geschäftsviertel der Stadt. In der Königstraße, der Hauptgeschäftsstraße, wurden keine Plünderungen beobachtet, in den Seitenstraßen jedoch sehr wohl. Vor einem Geschäft sah man Leute, die Schuhe anprobierten, die auf die Straße geworfen worden waren. Bevor das Café Heimann zertrümmert wurde, bedienten sich die Leute an Kuchen und dergleichen.

Im Folgenden eine Liste der in Stuttgart stark in Mitleidenschaft gezogenen Geschäfte:

Name der Firma

Adresse

Hauptgeschäftszweig

Bamberger& Hertz

Poststraße 2

Kleidung

Bloch

Rotebühlstraße 1

Restaurant

Jacobs

Hauptstätterstraße 32

Radios

Katz

Leonhardsplatz 6

Schuhe

Robert

Marktstraße 8

Kleidung

Salberg

Königstraße 56

Fotograf

Scheinmann

Königstraße 45

Schuhe

Speier

Königstraße 58

Schuhe

Speier

Marktplatz 4

Schuhe

Tanne

Tübingerstraße 6

Warenhaus

Ika

Königstraße 21

Damenwäsche

Festnahmen und andere Verfolgungshandlungen

Aus verlässlichen Quellen ist zu erfahren, dass praktisch die gesamte männliche jüdische Bevölkerung der Stadt Stuttgart zwischen 18 und 65 Jahren von Personen im Polizeiauftrag festgenommen wurde. In den meisten Fällen erfolgten die Festnahmen durch zwei Polizisten in Zivil. Unter den Verhafteten befanden sich viele bekannte jüdische Geschäftsleute und mehrere Konsule ausländischer Staaten, der namhafteste unter ihnen der dänische Generalkonsul für Württemberg. Alle festgenommenen Personen wurden unverzüglich in die Polizeireviere gebracht und in Zellen gesperrt. Während des 11. Novembers wurden einige der Verhafteten nach Welzheim gebracht, wo sich das wichtigste Konzentrationslager Württembergs befindet. Noch um 10 Uhr am Samstag, den 12. November, wurden Verhaftungen vorgenommen. Es scheint, dass sich unter letzteren Festnahmen größtenteils junge Männer aus ländlichen Regionen befanden, die seither in die Polizeireviere von Stuttgart gebracht wurden.

In verschiedenen Orten Württembergs, namentlich in Rexingen, Buttenhausen und Laupheim, durften Juden seit dem 10. November ihr Heim nicht mehr verlassen. Sie dürfen weder Briefe schreiben noch Post empfangen. Unbestätigten Berichten zufolge geht es so weit, dass diese Personen Schwierigkeiten haben, sich Lebensmittel zu beschaffen, und in manchen Fällen scheinen Bauern ihnen durch die Hintertür ihrer Häuser Essen zugesteckt zu haben.

In Heilbronn wurde am Freitag (11. November) eine Verlautbarung verbreitet, die Juden das Betreten von Kinos verbietet. Am frühen Morgen des 10. November war eine Anzahl festgenommener Juden gezwungen worden, paarweise durch die Straßen von Kehl zu marschieren und dabei im Chor zu rufen: „Wir sind schuldig am Mord in Paris und wir sind Deutschlandverräter.“ Unter ihnen befanden sich ehemalige Frontkämpfer, von denen manche im Großen Krieg Verletzungen davongetragen und Orden erhalten hatten.

Zum Zeitpunkt des Abfassens dieses Berichts scheinen die Festnahmen in den ländlichen Gebieten weniger stark verbreitet gewesen zu sein als in der Stadt Stuttgart. Viele jüdische Männer, von denen einige eine herausragende Stellung in der Geschäftswelt innehaben, sollen am Donnerstag ihre Wohnungen und Häuser verlassen haben und in der Zwischenzeit verschwunden sein. Ihre Freunde vermuten, dass sie in der Hoffnung, der Sturm möge sich legen und man würde sie nicht weiter belästigen, umherirren. In solchen Fällen, wird berichtet, habe die Polizei Nachricht bei der Familie hinterlassen, dass sich die abgängigen Männer gleich nach ihrer Heimkehr auf dem Polizeirevier zu melden hätten. Natürlich kursieren Gerüchte über viele Suizide, insbesondere von älteren jüdischen Männern, bisher konnten diese jedoch nicht bestätigt werden.

Obwohl der Verfasser mit den Besitzern von Häusern und Wohnungen gesprochen hat, die in anderen Teilen Deutschlands in den vergangenen Tagen verwüstet wurden, gibt es mit Ausnahme von zwei isolierten Fällen in Stuttgart keine Berichte über Angriffe auf von württembergischen Juden bewohnte Privathäuser und –wohnungen. Es ist allerdings bekannt, dass man das weniger als zehn Kilometer von Stuttgart entfernte Jüdische Waisenhaus von Esslingen zwangsevakuiert hat und die Kinder auf die Straße gejagt wurden. Viele Familien, deren Männer verhaftet wurden, sind ohne Geld und werden durch wohlhabendere jüdische Familien unterstützt. Es ist den jüdischen Organisationen nicht möglich gewesen, in den vergangenen Tagen Hilfe zu leisten, da ihre Büros geschlossen und ihr Geld beschlagnahmt wurde.

Nach einer Zeitspanne von deri Tagen, in der die Verfolgungsmaßnahmen gegen Juden in diesem Teil Deutschlands beispiellos waren, ist die Depression unter dieser Bevölkerungsgruppe unbeschreiblich geworden. Viele jüdische Frauen befürchten, dass ihnen das Schlimmste noch bevorsteht. Mit Grauen sehen sie dem Tag entgegen, an dem Herr von [sic] Roth begraben wird. In jüdischen Kreisen herrscht die Befürchtung, dass eine große Zahl der bereits im Gefängnis befindlichen Juden von den Behörden als Geiseln gehalten werden wird. Man hofft, dass Juden im Ausland und die ausländische Presse den deutschen Behörden keinen Anlass geben, die Verfolgungen und Festnahmen künftig noch zu intensivieren.

Reaktion der Menschen auf die beschriebenen Ereignisse

Unter vielen konservativen Menschen in Stuttgart wird vermutet, dass das gewaltsame Vorgehen gegen die Juden in den letzten drei Tagen geplant und keineswegs eine spontane Aktion war, wie die deutsche Presse die Bevölkerung glauben machen will. Es wurde in Stuttgart rasch bekannt, dass das Vorgehen gegen die Juden in Württemberg und Hohenzollern mehr oder weniger gleichzeitig erfolgte. Ebenso rasch verbreitete sich, dass es in diesem Teil Deutschlands zu folgenden drei Maßnahmen kam:

a) Anzünden von Synagogen;
b) Zerschlagen von Schaufenstern und das erzwungene Schließen jüdischer Geschäfte sowie
c) die Verhaftung jüdischer Männer im großen Stil.

Diese Handlungen haben bei einem großen Teil der Bevölkerung Unbehagen ausgelöst und die Menschen rasch dazu veranlasst, ihrer mangelnden Zustimmung zu diesen Praktiken Ausdruck zu verleihen. Die Reaktionen der Bevölkerung waren allerdings unterschiedlich. Die überwältigende Mehrheit der nichtjüdischen Bevölkerung, vielleicht bis zu 80 Prozent, hat ihren Widerwillen gegen diese gewaltsame Machtdemonstration gegenüber den Juden unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Ja, viele Menschen senken ihren Kopf vor Scham. Andererseits haben sich vielleicht 20 Prozent der Bevölkerung über die Anwendung radikaler Maßnahmen befriedigt gezeigt.

Hochachtungsvoll,
Samuel Honaker
Amerikanischer Generalkonsul

Original an Botschaft, Berlin
Kopie an Außenministerium, Washington
Kopie an Generalkonsulat, Berlin

II. Brief an George S. Messersmith, Außenministerium, Washington, DC

Amerikanisches Konsulat
Stuttgart, Deutschland, 15. November 1938

The Honorable George S. Messersmith
Assistant to the Secretary of State
Washington, DC

Sehr geehrter Herr Messersmith,

da ich Ihre lebhafte Anteilnahme an deutschen Fragen kenne, denke ich, dass Sie an einem Bericht aus erster Hand über die Repressalien der vergangenen Tage gegen Juden in diesem Teil Deutschlands interessiert sind. Ich lege deshalb zur sofortigen Kenntnisnahme eine Kopie meines Berichts Nr. 307 vom 12. November 1938 mit dem Titel „Antisemitische Verfolgung im Stuttgarter Konsularbezirk“ bei. Nach sorgfältiger Recherche und persönlicher Erfahrung wurde dieser Bericht in großer Eile abgefasst, um die Botschaft in Berlin möglichst rasch zu informieren. Sie mögen zusätzliche Erkenntnisse zu diesem Thema wünschen.

Von allen Orten in diesem Teil Deutschlands wurden die Juden von Rastatt in der Nähe von Baden-Baden der unbarmherzigsten Behandlung unterzogen. Viele Juden in diesem Teil erlitten grausame Schläge und Übergriffe, und ihre Wohnungseinrichtung wurde fast vollkommen zerstört. Praktisch alle männlichen Juden dieser Stadt wurden festgenommen und entweder ins Gefängnis oder Konzentrationslager gebracht. Jene, die der Verhaftung entkamen, verstecken sich in den Wäldern oder sind bei Freunden untergekommen. Ähnlich ging es an anderen Orten zu, und gewiss gibt es viele Übergriffe, von denen ich noch nichts gehört habe.

Selbst die Leiter karitativer jüdischer Einrichtungen wurden ernsthaft belästigt, obwohl es den Behörden bewusst gewesen sein musste, dass eben solche Juden den Bedrängten helfen hätten können, hätte man ihnen ihre Freiheit und ihr Geld gelassen, das aber unverzüglich beschlagnahmt wurde. Unterdessen haben sich arische Ärzte in Stuttgart geweigert, Juden, die ihrer Hilfe dringend benötigen, medizinischen Beistand zu leisten, solange der Beweis nicht erbracht ist, dass kein jüdischer Arzt zur Verfügung steht. Ein alter Jude aus Bad Cannstatt, einem Vorort von Stuttgart, erlitt am Freitag (11. November) einen Herzinfarkt, und als ein Familienmitglied einen bekannten Herzspezialisten in Stuttgart anrief, soll dieser geantwortet haben: „Solange es noch einen jüdischen Arzt in Freiheit gibt, kann ich nicht kommen.“ So weit ich in Erfahrung bringen konnte, wurden mit Ausnahme von Dr. Einstein, einem über 65 Jahre alten Kinderspezialisten, trotz des überwältigenden Bedarfs an medizinischer Hilfe in der Folge des brutalen und allem Anschein nach von den deutschen Behörden angeregten Vorgehens alle jüdischen Ärzte in Gewahrsam genommen.

Alle jüdischen Automobile werden systematisch konfisziert. In der Regel besuchen zwei Männer in Zivil mit Polizeivollmacht die Häuser jüdischer Automobilbesitzer und verlangen die Schlüssel zu deren Garagen und Wagen. Auf Verlangen stellen sie für gewöhnlich auch Empfangsbestätigungen für die Autos aus, die mit „von der Kriminalpolizei“ unterzeichnet werden.

Einige Arier wurden festgenommen, weil sie ihrer Abscheu vor den Ereignissen der vergangenen Tage allzu offen Ausdruck verliehen hatten. Viele Personen, die insgeheim mit den Juden sympathisieren oder die unbarmherzige Behandlung hilfloser Menschen missbilligen, haben zunehmend Angst, ihre Meinung zu äußern. Ich habe jedoch von vielen Fällen gehört, in denen Arier in Mitleidenschaft gezogenen jüdischen Familien im Geheimen helfen und sie sogar mit Geld und Lebensmitteln versorgen.

Selbst die Religionszugehörigkeit von Personen jüdischer Herkunft, die als Christen geboren und getauft waren, konnte sie nicht vor der Verhaftung schützen. Ein typisches Beispiel dieser Art ist die Festnahme von Dr. Gabriel in Stuttgart, der bis 1933 der Leiter des Akademischen Informationsbüros an der Kölner Universität war. Es wird angenommen, dass Dr. Gabriel, der anscheinend einige Zeit lang mit Professor Sprague von der Columbia University zusammengearbeitet hat, in ein Konzentrationslager in Welzheim, Württemberg, gebracht wurde.

Was Stuttgart anbelangt, kann ich mit Sicherheit sagen, dass diese so genannte Vergeltungsmaßnahme gegen die Juden keine spontane, aus der Bevölkerungsmasse hervorgegangene Bewegung war. Sie scheint eindeutig gut organisiert, geplant und durch Personen ausgeführt worden zu sein, die das Vertrauen der Behörden genießen. So war die Feuerwehr in Bad Cannstatt in der Nähe der Synagoge postiert, noch ehe das Gebäude in Brand gesteckt wurde. Und während am Donnerstagmorgen (10. November) die Verwüstung jüdischer Geschäfte in Stuttgart in vollem Gange war, fuhr ein neuer 12-Zylinder-Mercedes mit hohen S.S.-Männern bei den betreffenden Läden vor. Die Männer begutachteten die Szene und fuhren, nachdem sie anscheinend ihr Einverständnis signalisiert hatten, wichtigtuerisch davon.

Dr. Max Immanuel, ein Aufsichtsratsmitglied der Berliner Kreditinvestitionsgesellschaft, der angeblich in der Vergangenheit eng mit Herrn Schacht zusammengearbeitet hat, hat mich informiert, dass die gesamte Wohnungseinrichtung seiner in Nürnberg ansässigen Schwester vollständig zerstört wurde. In Nürnberg scheinen die Verwüstungen und Misshandlungen besonders schlimm gewesen zu sein.

Erst gestern (Sonntag, 13. November) ersuchte mich die Frau eines prominenten Nürnberger Juden, den ich seit einigen Jahren gut kenne und der mir im Zusammenhang mit bestimmten Berichten sehr viel geholfen hat, etwas für die Freilassung ihres Mannes zu unternehmen, der am 10. November um drei Uhr dreißig morgens festgenommen wurde. Diese Dame erzählte mir, dass sie um ungefähr ein Uhr früh durch lautes Klopfen und Schellen an der Türklingel geweckt wurde. Sobald die Tür offen war, drangen Männer in SA-Uniform in die Wohnung und begannen sofort damit, die Einrichtung des Salons und des Speisezimmers zu zertrümmern. Ledersessel wurden mit Messern aufgeschlitzt und zerstochen, sodass sie nun praktisch wertlos sind. Porzellan wurde auf den Boden geworfen und zerbrochen. Nicht ein einziges Stück aus Glas blieb in der Wohnung heil. Als die Männer abzogen, war die Wohnung mit Ausnahme der Schlafzimmer, die sie nicht betreten hatten, ein einziger Trümmerhaufen.

Diese Zerstörung reichte den dafür Verantwortlichen aber immer noch nicht, denn um etwa vier Uhr früh kamen zwei Männer in Zivil mit Polizeibefugnis und forderten ihren Mann grob auf, sich unverzüglich anzuziehen. Er wurde verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Obwohl diese Dame eine recht einflussreiche Person ist und Kontakte zur Nürnberger Polizei unterhält, ist es ihr nicht gelungen, herauszufinden, in welches Gefängnis oder Konzentrationslager ihr Mann gebracht wurde.

Während des Tages berichteten mir zwei Leute, dass das Jüdische Altenheim in Neustadt in der Pfalz bis auf seine Grundfesten niedergebrannt wurde, und ungefähr sechzig Bewohner, allesamt alte Leute, von denen manche krank oder verkrüppelt und andere einfach altersschwach sind, in das Jüdische Altenheim von Mannheim verlegt wurden. Dort gab es aber überhaupt keinen Platz für sie, und anscheinend müssen sie über das ganze Gebäude verstreut auf dem Boden liegen.

Es gibt viele ähnliche Geschichten, ich denke jedoch, dass Sie nun ausreichend informiert sind, um meine eigenen unmittelbaren Erlebnisse der letzten Tage als verantwortlicher Leiter des Stuttgarter Konsulats erfahren zu wollen.

Bildlich ausgedrückt wurde mein Haus von Besuchern und Telefonanrufen bombardiert, die mir die erschreckenden Umstände, in denen sich die Menschen derzeit befinden, zur Kenntnis brachten. Hunderte appellieren um Hilfe und Ermutigung, und da ihre Männer in Konzentrationslager verschleppt wurden, sind viele mittellos. Gestern bat mich eine über sechzigjährige Amerikanerin spät nachts um Hilfe, um den Aufenthaltsort ihres alten und kranken Mannes herauszufinden, der zusammen mit den deutschen Juden abgeholt wurde. Ich bin zuversichtlich, dass er in wenigen Stunden an ihrer Seite sein wird. Viele Amerikaner richten sich an mich im Namen ihrer jüdischen Verwandten.

Das Konsulat erhielt gestern fast hundert Telegramme und nahezu ebenso viele heute. Viele kommen aus den Vereinigten Staaten, und ihre Verfasser sind voller Sorge um ihre Verwandten in Deutschland. In der Mehrheit der Fälle wurde ermittelt, dass sich die betroffenen männlichen Familienmitglieder in Konzentrationslagern befinden. Sogar bis eben wurden Menschen in Stuttgart verhaftet, und andauernd kommen Telegramme herein, obwohl es spät nachts ist.

Mehr als fünf Tage lang war das Büro von Menschen überschwemmt. Jeden Tag stürmte eine immer größere Menge das Konsulat, füllte alle Räume und ergoss sich auf den Korridor des fünfstöckigen Gebäudes. Heute waren es mehrere Tausend. Jede Person erhielt unsere größtmögliche Anteilnahme, und jeder muss gespürt haben, dass man ihn oder sie so höflich und empathisch, wie es die gigantische Menschenmenge erlaubte, behandelte.

Das gesamte Personal geht mit der Herausforderung, vor die wir gestellt sind, überaus loyal und effizient um. Unter den leitenden Angestellten, von denen alle unter den schwierigen Bedingungen gut arbeiten, möchte ich vornehmlich Konsul L’Heureux herausheben, und nach ihm Vizekonsul Spalding. Unter den Büroangestellten fällt besonders Mr. Morton Bernath auf.

Die gegenwärtige Lage ist für uns in Stuttgart nicht vollkommen neu. Während jetzt alles eine viel größere Dimension angenommen hat, haben wir in den vergangenen drei Jahren ähnliche, wenn auch weniger dramatische Situationen erlebt, von denen manche rückblickend viel schwieriger erscheinen und ein höheres Maß an Einfallsreichtum erfordert zu haben scheinen. In der Tat habe ich viele Schutzmaßnahmen mit der tüchtigen Hilfe von Morton Bernath bearbeitet, darunter Verhaftungen wegen politischer Vergehen, Geldwechselübertretungen und dergleichen, und ich bin froh, berichten zu dürfen, dass wir stets erfolgreich waren. Gegenwärtig erweisen sich Fragen im Zusammenhang mit der Überweisung von Geld im Auftrag amerikanischer Staatsbürger in den Vereinigten Staaten wegen der Einstellung der deutschen Regierung als ungewöhnlich mühsam. Aber erst vor ein paar Tagen ist es uns gelungen, bei der deutschen Regierung den Verzicht auf ihren Anspruch auf das gesamte Vermögen einer älteren jüdischen Frau amerikanischer Nationalität durchzusetzen.

Ich vertraue darauf, dass meine Beschreibung zusammen mit den politischen Berichten dieses Büros, mit denen die Botschaft sehr zufrieden zu sein scheint, Ihnen eine konkrete Vorstellung von der Lage gibt, mit der wir von Zeit zu Zeit in den vergangenen drei Jahren konfrontiert waren, und Ihnen insbesondere vor Augen führt, mit welcher Situation wir es im Moment zu tun haben.

Hochachtungsvoll,
[unterzeichnet] Samuel Honaker

Anlage: Kopie des Berichts Nr. 307

Anmerkungen

[1] 11. November, Gedenktag des Waffenstillstands im 1. Weltkrieg–Hrsg.

Quelle des englischen Originals: American Consul General Samuel Honaker’s description of Anti-Semitic persecution and Kristallnacht and its aftereffects in the Stuttgart region (November 12 and November 15, 1938), State Central Decimal File (CDF) 862.4015/2002, Records of the Department of State in the National Archives, Record Group 59, General Records of the Department of State; abgedruckt in John Mendelsohn, Hrsg., The Holocaust: Selected Documents in Eighteen Volumes, Bd. 3, New York: Garland, 1982, S. 176–89.

Übersetzung: aus dem Englischen ins Deutsche von Erica Fischer