Quelle
Ich habe in Bezug auf die Sittlichkeit in vielen Punkten gerade das Gegenteil von dem gefunden, was Göhre fand. Ich halte hauptsächlich seine Behauptung von der freien Liebe der Männer, der notwendigen Treue aber der Frauen, für unrichtig. Gerade die Sittenzustände habe ich auf das eingehendste studiert, weil sie mir das wichtigste Kapitel erschienen.
Wenn von Treue der Frauen und Liebesfreiheit der Männer gesprochen wird, so ist damit selbstverständlich das verheiratete Contingent gemeint; fast überall – und ich habe genaue Informationen angestellt – bleiben sich Mann und Frau beide in der Ehe treu oder ein jedes geht seiner Wege. Daß es natürlich auch Ausnahmen giebt, will ich nicht bestreiten, aber diese sind thatsächlich so selten, daß sie kaum der Erwähnung bedürfen.
Die Frauen bringen häufig ein uneheliches Kind mit in die Ehe, oft auch zwei; fast immer aber sind es Kinder desjenigen, den sie heiraten. Die Mädchen erzählen in der Fabrik ganz harmlos von ihrem Kinde, wenn es ein Zähnchen bekommen hat oder krank ist; teilnehmend hören die anderen zu, es fiele keiner ein, darin eine Unsittlichkeit zu sehen. Man verkehrt zwar nicht mehr gern mit jenen männerlosen Müttern, aber lediglich deswegen, weil die Mütter unehelicher Kinder, und seien sie noch so jung, ernster, weniger vergnügungs- und putzsüchtig sind und einen Hang zum solideren Leben zeigen. Sonntags gehen sie vielfach mit dem nett geputzten Kinde und dem Schatze spazieren, stolz sieht ihnen von der Hausthür aus die Mutter nach.
Die Arbeiterinnen leben vielfach im Concubinat mit Arbeitern; so war die eine in unserm Saal drei Jahre mit einem Webermeister in Dresden, ein Jahr mit einem Heizer in Zwickau und zur Zeit ein halbes Jahr mit einem Spinner in Chemnitz vereint; Kinder waren jedoch nicht vorhanden.
Ebenso frei und derb, wie die Arbeiterinnen in der Liebe sind, zeigen sie tiefe und ernste Empörung für jede gewerbsmäßig betriebene Unzucht, und ganz speziell für solche Mädchen, die sich an „feine Herren“ vergeben. Der Schatz schenkt ihnen Garderobe, Schmuck, Wäsche, bezahlen aber lassen sie sich ihre Liebe nicht, es muß bei freiwilligen Geschenken bleiben.
Hierin liegt ein Zeichen, daß diese Leute den geschlechtlichen freien Verkehr aus Liebe nicht für unsittlich, sondern für natürlich halten, für Befriedigung eines Naturtriebes, der nie zum Erwerb herabsinken darf.
Ich kannte eine, die bis vor kurzem bei einem Arzt gedient hatte, wegen nächtlichen Umhertreibens mit Soldaten jedoch entlassen worden war; sie war stets hübsch gekleidet, trug echte silberne Schmucksachen und aß besser, denn alle anderen. Auch auf Accordarbeit angestellt, kam es ihr nicht darauf an, ein oder zwei Tage zu fehlen, sie arbeitete mit sichtlicher Nonchalance. Es war mir gleich am ersten Tage aufgefallen, daß alle mehr oder minder grob mit jener Blonden waren; sie tranken nicht aus dem gleichen Krug mit ihr und wollten nie etwas von deren Speisen, trotzdem gerade diese immer reichlich damit versehen war. Ich frug meine Nachbarin nach der Ursache dieses sonderbaren Benehmens. „Ach“, meinte sie geringschätzend, „die Lydia ist ein Lumpenmensch, die geht mit Lieutenants, der ist’s nicht ums Arbeiten zu thun!“
Ueberhaupt herrschte eine allgemeine Abneigung gegen das Militär, ganz speziell gegen gemeine Soldaten und Lieutenauts; was dazwischen liegt, wird weniger scheel angesehen, weil die Möglichkeit vorliegt, von einem Unteroffizier oder Sergeanten geheiratet zu werden.
Geradezu fanatisch aber ist ihr Haß gegen „Tintenwischer“, wie sie Schreiber und in Bureaux arbeitende Kaufleute nennen.
Ich erinnere mich, daß uns eines Morgens eine ältere, etwa 30jährige Arbeiterin eine zündende Moralpredigt hielt und mit den Worten schloß: „Aber das sag’ ich Euch, ein ordentliches Fabrikmädel weiß, was sie sich schuldig ist, die giebt sich mit keinem solch verdammten Tintenschlecker ab; nicht einmal aufgucken müßt Ihr, wenn Ihr sie auf der Straße seht, Eure Röcke müßt Ihr zusammenhalten, damit Ihr nicht Tinte von den Lausbuben d’ran bekommt. Waschen thun sie sich nicht, die Tinte schleckern die Hungerleider von ihren Pfoten, aber einen Klemmer tragen sie doch. Ich sag’s Euch, lieber den schmutzigsten, schwärzesten Arbeiter, als solch einen niederträchtigen Faullenzer und Schleicher!“
Ich konnte die Abneigung jener Mädchen gegen die jungen Kaufleute recht wohl begreifen, ja, so lange ich Arbeiterin war, teilte ich sie voll und ganz. Ich mache jenen Leuten hier den Vorwurf, daß sie größtenteils Schuld an der Demoralisation der Arbeiterinnen sind und daß sie, wenn die Arbeiterin ihnen nicht zu Willen sein will, diese durch Intrigue, heimtückische Verleumdung beim Direktor, boshafte Unterdrückung und Chikanen der Sozialdemokratie in die Arme treiben, umsomehr, als das gesamte sozialdemokratische männliche Fabrikpersonal die Mädchen besser, höflicher und menschenwürdiger behandelt, als es die anderen thun.
Quelle: Frau Dr. Minna Wettstein-Adelt, 3½ Monate Fabrik-Arbeiterin. Berlin: J. Leiser, 1893, S. 24–26. Online verfügbar unter: https://digital.slub-dresden.de/werkansicht?id=5363&tx_dlf%5Bid%5D=93042&tx_dlf%5Bpage%5D=1.