Einleitung

  • Brian Vick
  • Jonathan Sperber

Zwischen 1815 und 1866 erlebten die Staaten Mitteleuropas tiefgreifende soziale, kulturelle, ökonomische, ökologische und politische Veränderungen, die sie zu einem spannenden und aufschlussreichen Thema der historischen Forschung machen. Die Epoche umfasste Perioden der Restauration und der Revolution, als verschiedene Stimmen und Kräfte in der Gesellschaft darum rangen, inwieweit diese Veränderungen gefestigt und ausgeweitet oder eher in ihrem Verlauf gebremst oder verändert werden sollten. Die Niederlage Napoleons und die europäische Einigung nach dem Wiener Kongress von 1814/15 schufen den Rahmen für eine Periode relativen Friedens und internationaler Zusammenarbeit in Europa, zu deren Eckpfeilern der Deutsche Bund von 1815–1866 gehörte, doch damit war das Ringen um das revolutionäre und napoleonische Erbe ebenso wenig beendet wie die Modernisierungsprozesse, die das 19. Jahrhundert weiter prägen sollten. Die deutschen Staaten und Deutschsprachige spielten generell eine zentrale Rolle in vielen Aspekten der Geschichte des 19. Jahrhunderts, sowohl im Inland als auch durch ihre Beiträge im Ausland in einer Ära zunehmender Mobilität und Globalisierung. Die in den zwölf Kapiteln dieses Bandes präsentierten Dokumente und Bilder bieten zahlreiche Perspektiven auf die Aktivitäten der Männer und Frauen mit unterschiedlichem Hintergrund, die diese Entwicklungen sowohl gestalteten als auch durchlebten.

Die ersten drei Kapiteln behandeln politische Themen. Die angemessene Form von Regierung und Verwaltung war Gegenstand erheblicher intellektueller Kontroversen und politischer Konflikte in Deutschland während des halben Jahrhunderts zwischen 1815 und 1866. Drei Hauptthemen waren in diesen Debatten besonders zentral. Die erste Frage, vielleicht die wichtigste, war die Art und Weise, wie Mitteleuropa organisiert werden sollte—als eine Konföderation souveräner Staaten oder als ein deutscher Nationalstaat? Die zweite Frage, die teilweise mit der ersten zusammenhing, war die Rolle der Volksbeteiligung an der Regierung der verschiedenen deutschen Staaten und eines möglichen vereinigten deutschen Nationalstaates. Sollte diese Regierung autoritär und absolutistisch oder parlamentarisch und konstitutionell sein? Die dritte Frage bestand darin, was die Zeitgenossen die Emanzipation der Juden nannten. Hier ging es nicht nur um die Frage, ob die Mitglieder dieser entrechteten Minderheit gleiche Rechte und die volle Staatsbürgerschaft erhalten würden, sondern auch ganz grundsätzlich um das Wesen von Staatsbürgerschaft und Regierung.

1. Konföderation oder Nationalstaat?

Nach der Zerstörung des alten Heiligen Römischen Reiches durch die Armeen der Ersten Französischen Republik und Napoleon zwischen 1793 und 1806 wurde die Neuordnung der Regierungen Mitteleuropas zu einem wichtigen Punkt auf der politischen und diplomatischen Tagesordnung. Der berühmte Wiener Kongress, die internationale Friedenskonferenz von 1814/15, welche die Neuordnung Europas nach den Kriegen gegen Napoleon überwachte, schuf eine eigene Lösung in Form des Deutschen Bundes, eines Bundes unabhängiger und souveräner deutscher Staaten. Der Deutsche Bund dauerte einundfünfzig Jahre und ist damit das am längsten bestehende Regierungsgebilde in Mitteleuropa der letzten zwei Jahrhunderte (die Bundesrepublik Deutschland feierte im Jahr 2000 ihren 51. Geburtstag, hatte allerdings bei der Wiedervereinigung 1990 große Gebiets- und Verfassungsänderungen erfahren). Trotz der relativen Langlebigkeit der Konföderation blieb diese eine zutiefst umstrittene Institution. Insbesondere gab es hartnäckige Forderungen nach ihrer Ersetzung durch einen einzigen, vereinigten deutschen Nationalstaat. Die Wahl zwischen Bund oder Nationalstaat drehte sich natürlich um die nationalistische Idee, dass eine Nation unter einer Regierung leben sollte. Doch wie die folgenden Dokumente zeigen, ging es auch um die Stellung der deutschen Territorien in einem größeren europäischen Rahmen sowie um innere politische Ziele und Aufgaben in Deutschland.

Die erste Gruppe von Dokumenten enthält Auszüge aus der Bundesakte von 1815, die den Deutschen Bund gründete, die Wiener Schlußakte von 1820, die dieses erste Dokument ergänzte, und drei der wichtigeren Beschlüsse des Bundes: das Pressegesetz von 1819, die Sechs Artikel und die Zehn Artikel vom Juni–Juli 1832. Zusammen begründeten diese Dokumente die Konföderation als einen Bund souveräner Staaten, unabhängig voneinander und von den anderen europäischen Mächten. Sie legten aber auch verbindliche Regeln für diese souveränen Staaten fest, einige fortschrittlich, einige repressiv. Die Mitgliedsstaaten wurden zum Beispiel verpflichtet, Katholiken und Protestanten gleich zu behandeln und eine Form repräsentativer Institutionen einzurichten, doch waren sie ebenfalls aufgefordert, Pressefreiheit und politischen Aktivismus im Interesse der politischen Stabilität unter den zumeist monarchischen Regierungen zu unterdrücken.

Diese Regelungen provozierten nationalistischen Widerstand gegen den Bund, wie die folgenden Dokumente zeigen. Ernst Moritz Arndt (1769–1860), Historiker, Schriftsteller und Journalist, war ein prominenter Gegner der Herrschaft Napoleons in Deutschland und einer der Intellektuellen, die den modernen deutschen Nationalismus erstmals formulierten. Sein Gedicht „Des Deutschen Vaterland“ von 1813 wurde inmitten der Niederlage von Napoleons Armeen und des Zusammenbruchs der napoleonischen Herrschaft in Mitteleuropa geschrieben; es sollte von deutschen Nationalisten im neunzehnten Jahrhundert unzählige Male vertont und gesungen werden. Das Gedicht vertrat ein ganz anderes Prinzip für die Organisation Deutschlands als das, was bald nach seiner Komposition von den Diplomaten in Wien beschlossen wurde. Besonders bedeutsam an dem Lied ist die Art und Weise, wie Arndt Sprache und Kultur als Grundlage für einen deutschen Nationalstaat festlegt, aber auch den Hass auf die Franzosen als weitere Grundlage dafür sieht.

Johann August Wirth (1789–1848), Journalist und liberaler politischer Aktivist, war ebenfalls ein Befürworter eines geeinten deutschen Nationalstaates. In seiner Rede, die er vor den 30.000 Teilnehmern des Hambacher Festes, einer oppositionellen politischen Massendemonstration, im Mai 1832 hielt, forderte er einen deutschen Nationalstaat und prangerte die deutschen Fürsten und ihre Konföderation an. Während Arndts deutscher Nationalismus auf nationaler Feindschaft basierte, stellte sich Wirth einen deutschen Nationalismus vor, der mit anderen nationalistischen Bewegungen im Widerstand gegen autoritäre Herrschaft in ganz Europa kooperieren würde. Bei den liberalen Nationalisten wie Wirth ist der sich gegenseitig verstärkende Charakter ihrer Hauptziele auffällig. So hofften sie, das Erreichen einer einheitlichen nationalen Regierung könnte eine Gelegenheit bieten, die konservativen monarchischen Institutionen in den deutschen Ländern zu reformieren, während gleichzeitig, so dachten sie, die Etablierung von Regierungen mit breiterer politischer Beteiligung in den einzelnen deutschen Staaten auch den Weg zur deutschen Einheit ebnen würde.

Die ersten tatsächlichen Versuche, einen deutschen Nationalstaat zu schaffen—im Gegensatz zum Schreiben von Gedichten darüber—fanden während der Revolution von 1848/49 statt. Ein entscheidendes Problem, das während dieser Bemühungen auftauchte und zu ihrem Scheitern beitrug, war die Frage, ob ein deutscher Nationalstaat einige oder alle Gebiete des österreichischen Kaiserreichs einschließen sollte, in dem viele deutschsprachige Einwohner lebten, aber auch viele anderssprachige Einwohner. Die westlichen Provinzen waren immer als Teil Deutschlands betrachtet worden; sie waren Teil des Heiligen Römischen Reiches, und die königliche Dynastie der Habsburger, die über Österreich herrschte, war fast ununterbrochen seit 1438 das Oberhaupt des Heiligen Römischen Reiches gewesen und stand noch immer dem Deutschen Bund vor. Etwa 80 Prozent der Untertanen der Habsburger waren aber keine Deutschen, sondern Magyaren, Polen, Italiener, Rumänen sowie Angehörige verschiedener slawischer Nationalitäten. Würde das gesamte Österreichische Reich Teil eines vereinigten deutschen Reiches, dann wäre dieses Reich nach manchen Definitionen kein deutscher Nationalstaat; würden nur die deutschen Territorien des Österreichischen Reiches Teil eines vereinigten Deutschlands, dann würde das Österreichische Reich aufhören zu existieren. In Provinzen wie Böhmen und Krain wäre es außerdem schwierig, wenn nicht gar unmöglich, Deutsche, Tschechen und Slowenen, die in gemischten Gebieten lebten, auseinanderzuhalten, oder besser gesagt, es wäre schwierig, zwischen den deutsch-, tschechisch- und slowenischsprachigen und den vielen zweisprachigen Bevölkerungen zu unterscheiden, die sich mit keiner der beiden Nationalitäten identifizierten und sich stattdessen in erster Linie als Böhmen oder Krainer und Untertanen des habsburgischen Kaisers sahen. Um diese Probleme zu vermeiden, setzten sich einige liberale Nationalisten für eine umfassendere Konzeption der Staatsbürgerschaft ein, die sich eher an bürgerlichen als an rein sprachlichen Gesichtspunkten orientierte und mit entsprechenden Rechten und Schutzmaßnahmen für sprachliche Minderheiten einherging. Ein solcher Schutz wurde in der Tat in §188 der Verfassung verankert, welche von der Frankfurter Nationalversammlung aufgestellt wurde, die während der Revolution von 1848/49 mit der Ausarbeitung einer Verfassung für ein vereinigtes Deutschland beauftragt war.

Eine andere Lösung für das Problem der habsburgischen Länder, die erstmals 1849 erfolglos versucht wurde, war die „kleindeutsche“, nämlich die eines vereinigten deutschen Nationalstaates unter Ausschluss der Deutschen des österreichischen Kaiserreichs. Durch den Ausschluss Österreichs wäre ein solches Kleindeutschland von der anderen mitteleuropäischen Großmacht, dem Königreich Preußen, dominiert worden. Nach dem Scheitern der Revolution und der darauffolgenden Zeit der Reaktion drängte der 1859 gegründete Nationalverein auf ein solches Kleindeutschland. Sein Gründungsdokument, die Eisenacher Erklärung vom August 1859, und die Erklärung der Gruppe über eine deutsche Verfassung vom September 1860 implizierten beide, dass ein kleindeutscher Nationalstaat nur möglich wäre, wenn das Königreich Preußen von einer liberalen, reformierenden Regierung geführt würde (was wiederum die Verbindung von liberalen und nationalistischen Zielen in dieser Zeit unterstreicht).

Die „Großdeutschen“, also die Befürworter eines deutschen Nationalstaates unter Einschluss der Deutschen des Kaiserreichs Österreich, organisierten 1862 einen eigenen Verein, den Reformverein, um ihre Version eines vereinten Deutschlands durchzusetzen. Vergleicht man ihre Gründungserklärung mit der des konkurrierenden Nationalvereins, so zeigt sich, dass die „Großdeutschen“ eine positivere Einstellung zum Deutschen Bund hatten.

Ein wichtiger Anstoß für die Großdeutschen war der religiöse und konfessionelle Konflikt. Eine große Mehrheit der Einwohner des österreichischen Kaiserreichs war römisch-katholisch, und Österreich war immer die katholische Großmacht in Mitteleuropa gewesen, im Gegensatz zum überwiegend protestantischen Preußen. Wären Österreichs Katholiken von einem vereinigten, kleinen deutschen Nationalstaat ausgeschlossen (wie es 1866 der Fall sein würde), dann wären die Katholiken eine dauerhafte Minderheit in Deutschland. Die Erklärung des Katholikentags vom September 1862, der jährlichen Versammlung römisch-katholischer Vereine, Organisationen und Gesellschaften aus ganz Mitteleuropa, zeigt deutlich, wie die deutschen Katholiken die Frage eines kleindeutschen gegenüber einem großdeutschen Nationalstaat mit den Bedrohungen verknüpften, denen die katholische Kirche in ganz Europa ausgesetzt war.

Die österreichische Regierung unternahm Anfang der 1860er-Jahre eine diplomatische Initiative, um bei den Regierungen und der Bevölkerung der vielen deutschen Einzelstaaten um Unterstützung für ihre Haltung sowohl gegenüber Preußen als auch gegenüber der kleindeutschen Nationalbewegung zu werben. Teil dieser diplomatischen Initiative war der Vorschlag für eine Reform des Deutschen Bundes vom Juli 1863. Trotz aller Bekundungen deutschen Nationalbewusstseins zeigt der Vorschlag doch die erheblichen Schwierigkeiten, die das multinationale Habsburgerreich mit der Idee eines deutschen Nationalstaates hatte.

Gegen Ende dieses Abschnitts kommt ein Auszug aus der berühmten „Blut und Eisen“-Rede, die der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck am 30. September 1862 in einer Sitzung der Budgetkommission des preußischen Abgeordnetenhauses hielt. Damals weigerte sich das liberal dominierte Parlament, den Militärhaushalt der preußischen Regierung zu verabschieden. Indem er das Verhalten der Liberalen im Parlament, von denen viele dem Nationalverein angehörten, verurteilte, machte Bismarck deutlich, dass er die Schaffung eines kleindeutschen Nationalstaates befürwortete, der von Preußen dominiert würde, wenn auch nicht ein liberales und reformiertes Preußen, wie es der Nationalverein anstrebte. In der Tat forderte er weniger ein kleines Deutschland als vielmehr die Schaffung eines größeren Preußens, was nach dem Sieg Preußens über Österreich im Krieg von 1866 geschehen sollte.

2. Autoritäre Herrschaft oder parlamentarische/konstitutionelle Regierung?

Ein weiteres heiß umstrittenes Thema dieser Zeit war die Natur der Regierungsgewalt. Sollte die Exekutive—also die deutschen Monarchen—autoritär regieren können oder sollte ihre Macht durch eine Verfassung begrenzt werden, die ausdrücklich die Befugnisse einer gewählten Legislative aufführte und das Recht auf öffentliche Diskussion politischer Angelegenheiten garantierte? Die neue deutsche Bundesakte enthielt einen Paragraphen, der festlegte, dass jeder Bundesstaat eine „landständische Verfassung“ haben sollte, aber was das in der Praxis bedeuten würde, blieb Gegenstand vieler Diskussionen.

Ein prominenter Verfechter—und Praktiker—einer relativ autoritären (oder, wie die Zeitgenossen gesagt hätten, absolutistischen) Herrschaft war der österreichische Kanzler Clemens Fürst von Metternich (1773–1859). In seinem Brief vom 17. Juni 1819 an seinen persönlichen Sekretär und politischen Mitarbeiter Friedrich Gentz geißelte Metternich die Feinde der absolutistischen Herrschaft, die er als störende Intellektuelle identifizierte. Metternich stand besonders der Pressefreiheit und der parlamentarischen Regierungsform feindselig gegenüber und argumentierte, dass diese in England oder Frankreich akzeptabel sein mögen, in den deutschen Staaten aber unmöglich seien. In seinem politischen Testament, das er 1820 verfasste, erweiterte er das Argument aus seinem Brief an Gentz, indem er behauptete, dass das gemeine Volk die autoritäre Herrschaft akzeptierte, während der Widerstand dagegen vom Bürgertum und von antiklerikalen Freidenkern ausginge. Er rief die Monarchen in ganz Europa dazu auf, sich zu verbünden, um ihre Herrschaft zu sichern. Gentz wiederum verfasste 1819 die einflussreiche Denkschrift zur Karlsbader Konferenz, in der er versuchte, die Auslegung der landständischen Verfassungsklausel in der Deutschen Bundesakte von den Vorstellungen einer repräsentativen oder parlamentarischen Regierung weg zu lenken; gegen diese konservative Auslegung sollten Liberale wie Wirth und Carl Welcker noch jahrzehntelang kämpfen.

Metternichs Vorschläge waren leichter gesagt als getan, und selbst autoritäre Regierungen, die eine Verfassung und gewählte Legislative entschieden ablehnten, hielten es immer noch für notwendig, die öffentliche Meinung zu hofieren. Der Brief des preußischen Kultusministers Friedrich Eichhorn (1779–1856), an den preußischen Innenminister Adolf Heinrich von Arnim (1803–1868) vom 7. Juni 1844 wies wie Metternich auf die regierungsfeindlichen Aktivitäten unruhestiftender Intellektueller in der preußischen Rheinprovinz hin. Um mit ihnen zu konkurrieren, suchte Eichhorn nach Mitteln, um eine Zeitung zu subventionieren, die eine konservative, pro-staatliche Stimme vertreten und die öffentliche Meinung für sich gewinnen sollte.

Das Staats-Lexikon war ein Paradebeispiel für die Art von liberalen Versuchen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, denen Eichhorn entgegenwirken wollte. Das zwölfbändige Lexikon politischer Begriffe, das erstmals in den 1830er Jahren erschien, wurde von Befürwortern des politischen Liberalismus und einer konstitutionellen Staatsform herausgegeben. Carl von Rotteck (1775–1840), Professor der Rechtswissenschaften an der Universität Freiburg, einer der Herausgeber des Staats-Lexikons und eine liberale Führungsfigur im Großherzogtum Baden, wies in den Auszügen aus dem Eintrag „Constitution“ sorgfältig auf den Unterschied zwischen absolutistischer und konstitutioneller Regierung hin und argumentierte, dass ganz Europa vor der Wahl zwischen diesen beiden Regierungsformen stehe.

Am schärfsten gerieten die beiden Seiten während der Revolutionen von 1848/49 aneinander. Die meisten Befürworter einer konstitutionellen Regierung in Deutschland gingen davon aus, dass ein solches Regime in einer konstitutionellen Monarchie bestehen würde. Ein König oder ein anderer Fürst wäre das Staatsoberhaupt, der seine Befugnisse aus einer Verfassung ableiten würde, Befugnisse, die immer noch erheblich wären, wenn auch weniger als die eines absoluten Monarchen. Die Befürwortung einer republikanischen Regierungsform war vor allem während der Revolution von 1848/49 verbreitet. Carl Schurz (1829–1906) war in den Jahren 1848/49 Student an der Universität Bonn und ein demokratischer und republikanischer politischer Aktivist. (Nach der Niederlage der Revolution floh er in die Vereinigten Staaten, wo er sich gegen die Sklaverei und für die neue Republikanische Partei engagierte, als Unionsgeneral im Bürgerkrieg diente und unter Präsident Hayes zum Innenminister ernannt wurde). In seinen Memoiren, die er zu Beginn des 20. Jahrhunderts schrieb, erläuterte er den Verlauf der Ereignisse, die ihn von einem konstitutionellen Monarchisten zu einem Republikaner werden ließen.

Nach der Revolution wurde die konstitutionelle Regierung in Mitteleuropa zunehmend zur Norm, und selbst äußerst konservative Persönlichkeiten fanden eine solche Regierungsform nun akzeptabel. In einer Rede im Parlament des Königreichs Preußen im Jahr 1853 erklärte Friedrich Julius Stahl (1802–1861), konservativer politischer Theoretiker und Professor für Rechtswissenschaft an der Universität Berlin, warum er gegen einen Antrag auf Abschaffung der preußischen Verfassung war, die während der Revolution von 1848 eingeführt worden war. Stahl, dessen Ideen einen beträchtlichen Einfluss auf Bismarck hatten, argumentierte in seiner Rede, dass eine Verfassung die Macht und Autorität des preußischen Königs eher vergrößern würde als sie zu schwächen, wie es die Verteidiger der autoritären Regierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts befürchtet hatten. Stahl, wie auch später Bismarck, verstand, dass spezifische Bestimmungen in einer Verfassung notwendig waren, um die monarchische Autorität aufrechtzuerhalten; die Existenz einer Verfassung als solche musste die monarchischen Institutionen nicht automatisch gefährden.

3. Emanzipation der Juden

Da die Juden eine sehr kleine Minderheit der deutschen Bevölkerung darstellten, etwa 1–1,5 Prozent (selbst regional selten mehr als 5 Prozent), mag es überraschen, dass die Frage ihrer Staatsbürgerrechte in dieser Zeit ein zentrales politisches Thema war, neben denen der nationalen Einheit oder der konstitutionellen Regierung. Die Emanzipation der Juden war zum Teil deshalb ein wichtiges Thema, weil die Debatten darüber zutiefst unterschiedliche Ansichten über das Wesen der Staatsbürgerschaft und das Verhältnis der Bürger zu ihrer Regierung sowie über den Stellenwert der Religion in Staat und Gesellschaft offenbarten.

Debatten über die jüdische Emanzipation waren schon in den vorangegangenen Jahrzehnten zeitweise aufgekommen und flammten auf dem Wiener Kongress inmitten der Kämpfe um die deutsche Verfassung wieder auf. Stadtstaaten wie Bremen und Lübeck schlugen vor, neu angesiedelte jüdische Einwohner auszuweisen, und es herrschte starke Uneinigkeit darüber, ob das Gebot der Gleichbehandlung religiöser Gruppen in der Verfassung nur für die großen christlichen Konfessionen oder auch für das deutsche Judentum gelten sollte. Vor der Französischen Revolution wurden die Juden in allen deutschen Staaten in ihren bürgerlichen und wirtschaftlichen wie in ihren politischen Rechten diskriminiert. In den Gebieten unter französischer Herrschaft während der revolutionären und napoleonischen Ära erhielten die Juden oft politische Rechte, allerdings immer noch mit zeitweiligen Einschränkungen ihrer bürgerlichen und wirtschaftlichen Gleichberechtigung mit der Begründung, dass die christliche Bevölkerung vor ihren angeblich schädlichen Wirtschaftspraktiken geschützt werden müsse. Trotz der Lobbyarbeit der jüdischen Gemeinden von Bremen, Lübeck, Hamburg und Frankfurt am Main und des romantischen Schriftstellers Friedrich Schlegel (ebenfalls hier vertreten) sowie der Unterstützung durch Metternich und die preußischen Delegierten in Wien, ließ die deutsche Verfassung den Status der Juden in einem rechtlichen Schwebezustand, der während der gesamten Dauer des Deutschen Bundes nie geklärt wurde und der in den einzelnen Staaten auf diskriminierende Weise ausgelegt werden konnte und häufig auch wurde. Bis 1824 waren tatsächlich fast alle jüdischen Bewohner Bremens und Lübecks deportiert worden.

Eine Denkschrift aus den Akten des Staatsministeriums des Herzogtums Nassau, eines Kleinstaates im Westen Deutschlands, aus dem Jahr 1822 zur Frage des Aufenthalts- und Heiratsrechts der jüdischen Bevölkerung bietet einen guten Einstieg in die Debatte um die jüdische Gleichberechtigung. Die Verfasser des Memorandums weisen darauf hin, dass die Frage selbst als Folge der tiefgreifenden politischen Veränderungen der drei vorangegangenen Jahrzehnte entstanden ist. Im alten Heiligen Römischen Reich vor 1789 waren Gesellschaft und Regierung ständisch strukturiert; das heißt, verschiedene soziale oder religiöse Gruppen hatten unterschiedliche Pflichten und Privilegien und keine Gruppe war einer anderen gleichgestellt. Unter diesen Umständen war das Konzept einer religiösen Minderheit mit ihren eigenen unterschiedlichen Lasten und ihrer eigenen Lebensweise Teil des größeren Ganzen. Nach den Umwälzungen der Französischen Revolution wurde dieses Staats- und Gesellschaftsmodell jedoch durch ein Modell der allgemeinen Staatsbürgerschaft ersetzt, was die Position der Juden einzigartig machte. Die Bürokraten, die dieses Memorandum schrieben, stellten fest, dass es Bestrebungen gab, die soziale und wirtschaftliche Besonderheit der jüdischen Bevölkerung zu verringern, um ihre Berufsstruktur derjenigen der anderen Einwohner des Herzogtums anzugleichen. Sie äußerten Skepsis nicht nur über den Erfolg dieser Bemühungen, sondern auch über ihre Nützlichkeit und Gültigkeit.

Ein weiteres Dokument, datiert auf den 25. Januar 1820 und damit etwa aus der gleichen Zeit, ist der Bericht der preußischen Bezirksregierung von Koblenz über die Verhältnisse der Juden in ihrem Bezirk und darüber, ob das Edikt der preußischen Regierung von 1812, das den Juden mehr Bürgerrechte einräumte, auf die 1815 von Preußen erworbenen Gebiete angewendet werden sollte. Der Bericht stellte die Rechtslage in den westlich des Rheins gelegenen Gebieten, in denen die durch die Französische Revolution geschaffenen Gesetze galten, den östlich des Flusses gelegenen Gebieten gegenüber, die noch weitgehend dem alten Regime unterstanden. Der Autor des Berichts spricht sich dagegen aus, den Juden erweiterte Bürgerrechte zu gewähren und beschreibt die jüdische Bevölkerung des Gebiets in hasserfüllter und bigotter Weise, um seine Einschätzung zu begründen. Diese sehr feindselige Darstellung der Juden sollte zeigen, dass sie die Kriterien für die Staatsbürgerschaft nicht erfüllten, was implizierte, dass zu den Voraussetzungen für die Staatsbürgerschaft das Bekenntnis zu einer bestimmten Religion, das Befolgen bestimmter Bräuche und das Ausüben bestimmter Berufe gehörten.

Seit der Zeit der Umbrüche ab 1830 wurde die Frage der jüdischen Emanzipation zunehmend diskutiert. Die nächsten beiden Dokumente zeigen in besonders expliziter Form die unterschiedlichen und gegensätzlichen Vorstellungen vom Wesen des Staates und der Staatsbürgerschaft, die diese Debatte prägten. Das erste enthält Auszüge aus dem Pamphlet Die jüdische Nationalabsonderung nach Ursprung, Folgen und Besserungsmitteln, das 1831 von H. E. G. Paulus (1761–1851), Professor der Theologie an der Universität Heidelberg, veröffentlicht wurde. Der rationalistische Theologe, der mit seinem Evangelienkommentar für großes Aufsehen gesorgt hatte, als er die Auferstehung Jesu leugnete, war auch politisch aktiv und kommentierte häufig das öffentliche Geschehen. Gegen den damals im Landtag des Großherzogtums Baden eingebrachten Antrag auf Emanzipation der Juden im Großherzogtum behauptete Paulus, dass sich die deutschen Juden durch die Befolgung ihrer religiösen Gesetze zu einer eigenen und fremden Nationalität machten, die sich von den anderen Deutschen unterscheide. Daher könnten sie nur geschützte Untertanen des Staates sein, keine gleichberechtigten Bürger. Der einzige Weg für Juden, gleichberechtigte Bürger zu werden, war laut Paulus, ihre Gesetze und Bräuche zu ändern. Zusätzlich zu einer Angleichung ihrer Religion an das Christentum müssten die Juden aufhören, als Handelsvertreter und Hausierer tätig zu sein, Berufe, die er als schädlich für das öffentliche Wohl brandmarkte. Für Paulus waren Religion und Nationalität untrennbar miteinander verbunden; Juden müssten zeigen, dass sie die von Christen gesetzten Standards—religiös, moralisch und beruflich—erfüllten, um Bürger eines deutschen Staates zu werden.

Als Antwort darauf schrieb Gabriel Riesser (1806–1863) die Flugschrift Vertheidigung der bürgerlichen Gleichstellung der Juden gegen die Einwürfe des Herrn Dr. H. E. G. Paulus. Riesser, der deutlichste Befürworter der jüdischen Emanzipation unter den deutschen Juden, war ein gebürtiger Hamburger mit juristischer Ausbildung, der eine bemerkenswerte politische Karriere machen sollte: 1848/49 war er Vizepräsident der Frankfurter Nationalversammlung und wurde 1859 zum Richter am Hamburger Oberlandesgericht ernannt. Er war damit der erste Jude in Deutschland, der zum Richter ernannt wurde. Riessers Widerlegung von Paulus‘ Argumenten diente weniger der Verteidigung jüdischer religiöser Rituale oder der Auseinandersetzung mit der jüdischen Berufsstruktur, als vielmehr dem Argument, dass diese nicht Gegenstand der Diskussion waren. In Bezug auf Paulus‘ Angriffe auf jüdische kommerzielle Aktivitäten antwortete Riesser, dass Zwischenhändler ein normaler Teil des kaufmännischen Lebens seien, dass der Hausierhandel für die Kunden von Vorteil sei und dass Angriffe auf jüdische Geschäftsleute größtenteils das Werk ihrer Konkurrenten seien, die den Verbrauchern letztlich schaden würden, da sie den Wettbewerb einschränkten. Gegenüber Paulus‘ Behauptung, dass Juden sich durch das Befolgen ihrer religiösen Gesetze für die Staatsbürgerschaft disqualifizierten, erklärte Riesser, das Befolgen der jüdischen religiösen Gesetze sei eine Sache der religiösen Überzeugung und des individuellen Gewissens und keine Voraussetzung für die Staatsbürgerschaft, welche die Verpflichtung aller Bürger sei, die von der Regierung erlassenen Gesetze zu befolgen. Juden, so Riesser, hätten in den Befreiungskriegen gegen Frankreich gekämpft und in den Armeen der deutschen Staaten gedient und damit bewiesen, dass sie patriotisch zur deutschen Nation gehörten. Indem er Nationalität, Staatsbürgerschaft und die Rolle des Staates ganz anders definierte als Paulus, kam Riesser zu diametral entgegengesetzten Schlussfolgerungen über die jüdische Emanzipation.

Im Jahr 1846 debattierte der Landtag des Herzogtums Nassau einen Antrag, der die Regierung aufforderte, den Juden die gleichen Rechte wie den anderen Bürgern des Herzogtums zu gewähren. Ähnliche Debatten fanden zu dieser Zeit auch in den Parlamenten anderer deutscher Staaten statt, darunter Baden, Bayern und Preußen, sowie in der Deutschen Nationalversammlung während der Revolution von 1848, in der Riesser wieder eine prominente Rolle spielte. Im Verlauf der hier auszugsweise wiedergegebenen Debatte von 1846 äußerten sowohl Befürworter als auch Gegner der jüdischen Emanzipation ihre Ansichten über das Wesen der Staatsbürgerschaft und darüber, ob Juden die notwendigen Kriterien erfüllten, um Staatsbürger zu sein. Die Frankfurter Verfassung von 1849 gewährte den Juden gleiche Rechte, aber mit dem Zusammenbruch der Revolution traten diese nie in Kraft. Erst mit der Gründung des Norddeutschen Bundes 1867 und des Deutschen Reiches 1871 wurden die Juden in Deutschland gleichberechtigt.

Wie die Bilder von jüdischen Synagogen aus dieser Zeit zeigen, konnten sich Emanzipationsdebatten auch in anderen Lebensbereichen manifestieren, hier auch in der Architektur. Da die jüdischen Gemeinden vielerorts zunehmend ein öffentliches Gesicht zeigen durften, wurde die Frage nach der Gestaltung ihrer Gotteshäuser dringlicher. Die Gemeinde der Neuen Synagoge in Kassel entschied sich für einen Bau im romanischen Stil des deutsch-jüdischen Architekten Albrecht Rosengarten (1809–1893) in Anlehnung an die christliche Kirchenarchitektur, während die Synagoge in Dresden des bekannten Architekten Gottfried Semper (1803–1879) byzantinische und maurische Elemente aufgriff, die als „orientalisch“ stilisiert wurden und auf die nahöstliche Herkunft der Juden anspielten. Das Gemälde des deutsch-jüdischen Künstlers Moritz Daniel Oppenheim (1800–1882) Die Heimkehr des Freiwilligen aus den Befreiungskriegen zu den nach alter Sitte lebenden Seinen (1833/34) erhebt ebenfalls einen Anspruch auf jüdische Emanzipation und patriotische Staatsbürgerschaft, während es gleichzeitig die jüdischen religiösen Traditionen ehrt und auf mögliche Spannungen zwischen der alten Lebensweise und dem neuen Status hinweist.

4. Parteien und Organisationen

In den ersten zwei Dritteln des neunzehnten Jahrhunderts erkannten die Deutschen zunehmend die Existenz aufstrebender politischer Parteien an, jedoch mit gemischten Gefühlen. Das erste Dokument in diesem Abschnitt, ein Auszug aus dem Eintrag „Parteien (politische)“, im Staats-Lexikon, demonstriert diese Ambivalenz. Der Autor beginnt mit der Feststellung, dass seine Zeitgenossen in den 1840er Jahren die Parteien in ein politisches Spektrum von links nach rechts einteilten und Radikale, Liberale, Gemäßigte und Konservative nannten. Der Autor verurteilte jedoch letztlich diese Denkweise und zog es vor, Politik in Begriffen von speziellen, partikularen Interessen und dem allgemeinen oder öffentlichen Interesse zu beschreiben. Die einzigen legitimen Parteien seien diejenigen, die das öffentliche Interesse vertraten; diejenigen, die spezielle, partikulare Interessen vertraten, seien illegitim. Der Autor dieses Auszugs hatte linke politische Sympathien, doch war der Verdacht, dass politische Parteien eher illegitime Partikularinteressen als das allgemeine öffentliche Interesse vertreten, unter Deutschen aller politischen Richtungen weit verbreitet.

Wenden wir uns den einzelnen Parteien zu, oder in einer Zeit, in der es noch wenig Parteiinfrastruktur gab, vielleicht besser gesagt: den politischen Strömungen, so können wir auf der rechten Seite mit den Konservativen beginnen. Die Rede „Was ist die Revolution?“, die der konservative politische Theoretiker Friedrich Julius Stahl 1852 hielt, erklärte, was die Konservativen ablehnten und was sie aus dieser Opposition heraus befürworteten. An dieser Rede können wir sehen, welche wichtige Rolle die Ablehnung der Ideen und Forderungen der Französischen Revolution von 1789 für die deutschen Konservativen spielte, sowie auch die große Bedeutung der christlichen Offenbarungsreligionen für die konservativen Prinzipien. Interessant ist auch Stahls scharfe Anprangerung des Nationalismus als eine Form des gottlosen Götzendienstes. Da im späteren neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert der Nationalismus oft eng mit konservativer Politik verbunden war, mag es verblüffend sein, festzustellen, dass deutsche (und andere europäische) Konservative sich in den ersten zwei Dritteln des neunzehnten Jahrhunderts so entschieden gegen den Nationalismus aussprachen, der damals mit dem Liberalismus verbunden war. Als der höchst konservative Otto von Bismarck 1866 dazu überging, einen Teil des politischen Programms der Nationalisten zu übernehmen, waren die Konservativen in ganz Deutschland entsetzt über sein Handeln und sahen darin einen Verrat an ihren politischen Prinzipien.

Anfang Oktober 1847 trafen sich liberale Landtagsabgeordnete und Politiker aus mehreren süddeutschen Staaten in der Stadt Heppenheim, um ein gemeinsames politisches Programm zu erarbeiten. Ihre Erklärung, das Heppenheimer Programm vom 10. Oktober 1847, bietet eine gute Zusammenfassung des liberalen politischen Denkens am Vorabend der Revolution. Zentral für die Liberalen war die Forderung nach der Schaffung eines geeinten deutschen Nationalstaates, aber auch die Ausweitung der bürgerlichen Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit sowie ein Ende des Feudalismus und der Grundherrschaft. Wie der Zeitungsbericht über ihr Treffen andeutet, waren sie sich der wirtschaftlichen Probleme, unter denen die unteren Klassen litten, wie die Steuerlast und der sinkende Lebensstandard, wohl bewusst, konnten aber keine Einigung darüber erzielen, was dagegen zu tun sei.

Das Programm der 1861 gegründeten Deutschen Fortschrittspartei, der liberalen Partei im Königreich Preußen, illustriert die Forderungen der liberalen Parteien gegen Ende dieses Zeitraums. Der Nationalismus und die nationale Einheit Deutschlands blieben ein zentrales Thema; die Bewahrung des Rechtsstaates und die Schaffung einer starken und unabhängigen Justiz waren zu immer wichtigeren Themen geworden. Ein weiterer wichtiger Punkt war die Ausweitung der Befugnisse des gewählten Abgeordnetenhauses des Preußischen Landtags gegenüber der Exekutive der preußischen Regierung und dem vom Adel dominierten Herrenhaus des Landtages. Auch die Steuerlast und wirtschaftspolitische Fragen wurden angesprochen, allerdings, wie im Heppenheimer Programm, nur vage.

Die Demokraten, wie das radikalere Element in der deutschen Politik jener Zeit oft genannt wurde, waren während der Revolution von 1848/49 am aktivsten und effektivsten. Gustav von Struve (1805–1870) war ein prominenter demokratischer politischer Aktivist im Großherzogtum Baden. Er wurde eingeladen, am so genannten Vorparlament von März–April 1848 teilzunehmen, einem Treffen liberaler und demokratischer Aktivisten, das die Einberufung einer deutschen Nationalversammlung zur Ausarbeitung einer deutschen Verfassung vorbereiten sollte, und brachte dort einen Antrag ein, der das demokratische politische Programm zusammenfasste. Einige Aspekte von Struves Antrag zeigen Ähnlichkeiten mit liberalen Ideen: nationale Einheit, bürgerliche Freiheiten und Rechtsstaatlichkeit, Trennung von Kirche und Staat, das Ende der Grundherrschaft; allerdings wurden sie hier in einer energischeren und zornigen Sprache ausgedrückt. Weitere für die Demokraten charakteristische Aspekte waren die vehemente Feindseligkeit gegenüber dem Adel und das Eintreten für eine republikanische Regierungsform auf der Grundlage eines breiteren Wahlrechts, als es viele gemäßigte Liberale unterstützen mochten. Das Programm forderte zudem soziale Reformen und Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut, Themen, welche die Liberalen eher zurückhaltend angingen. Beachtenswert ist außerdem, dass dieses demokratische und radikale politische Programm der Regierungsbürokratie feindlich gesinnt war und stark zur Senkung der Steuern aufrief—Ideen, die in neuerer Zeit eher mit Konservativen in Verbindung gebracht werden.

Erst ab den 1840er Jahren entwickelte sich aus der breiteren radikalen und demokratischen Bewegung eine spezifisch sozialistische politische Tendenz. Wenn es eine Person gibt, die als Begründer einer sozialistischen oder sozialdemokratischen Partei in Deutschland bezeichnet werden könnte, dann wäre es der Schriftsteller und politische Agitator Ferdinand Lassalle (1825–1864). In seinem berühmten „Offenen Antwortschreiben“ von 1863 forderte er die Gründung einer sozialistischen Arbeiterpartei. Eine solche Partei sollte nicht nur sozialistisch sein, sondern auch die liberale Forderung nach einer konstitutionellen und parlamentarischen Regierung und die radikale Forderung nach einem demokratischen Wahlrecht aufgreifen, da die bestehenden liberalen und demokratischen Parteien dies nach Lassalles Meinung versäumt hatten. Die Arbeiterpartei würde damit faktisch zum Erben ihrer Bestrebungen werden. Eine solche Position unterschied die Lassalleaner auch vom revolutionären Sozialismus eines Karl Marx und Friedrich Engels. Erst nach der Reichsgründung sollten sich diese Bewegungen zur Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zusammenschließen.

Einer der charakteristischen Aspekte des deutschen politischen Systems zwischen 1871 und 1933 war die Existenz einer spezifisch römisch-katholischen politischen Partei neben sozialistischen, radikalen, liberalen und konservativen Parteien. Diese Partei genoss die starke Unterstützung der katholischen Bevölkerung Deutschlands. Vor 1866 war jedoch unklar, ob eine solche Partei überhaupt entstehen würde. Es gab natürlich praktizierende, gläubige Katholiken, die sich in der Politik engagierten, ebenso wie katholische Vereine und Gesellschaften, die im öffentlichen Leben aktiv waren, aber die Frage, ob diese Gesellschaften die Basis einer katholischen politischen Partei sein sollten und ob gläubige Katholiken in ihr politisch aktiv sein sollten, war offen. Während der Revolution von 1848/49 bildeten die deutschen Katholiken Pius-Vereine (benannt nach Papst Pius IX.); die Generalversammlung der rheinländischen und westfälischen Pius-Vereine, die vom 17. bis 20. April 1849 in Köln stattfand, beinhaltete eine aufschlussreiche Debatte darüber, ob diese Vereine sich nur mit religiösen Fragen befassen oder ihre Meinung zu allen politischen Fragen kundtun und schließlich eine katholische politische Partei bilden sollten. Die Hauptteilnehmer der Debatte, Franz Xaver Dieringer (1811–1876), Professor für Theologie an der Universität Bonn, der Kölner Rechtsanwalt Hermann von Fürth (1815–1888), Franz Joseph Buß (1803–1878), Professor für Rechtswissenschaft an der Universität Freiburg, und Ignaz Döllinger (1799–1890), Professor für Theologie an der Universität München, waren allesamt prominente katholische politische Aktivisten. Ihre Argumente konzentrierten sich auf die Frage, ob eine katholische politische Partei gut für die Kirche wäre, aber auch, ob Katholiken ihren Einfluss im öffentlichen Leben am besten durch die Gründung einer eigenen Partei oder durch die Zusammenarbeit mit anderen, bereits bestehenden politischen Parteien geltend machen könnten.

5. Militär und Krieg

Verglichen mit der vorangegangenen revolutionären und napoleonischen Ära, deren Kriege zahlreiche Todesopfer und verheerende Zerstörungen gebracht hatten, waren die Jahre zwischen 1815 und 1866 in Europa relativ friedlich. Die Entwicklungen in der Militärstrategie und -technologie sowie das kontinuierliche Wachstum großer Bürgerheere bedeuteten jedoch, dass das Militär in dieser Zeit immer noch eine herausragende Rolle im deutschen Leben spielte. Erinnerungen an die Kriege gegen Napoleon und Siegesfeiern prägten die Jahre nach 1814, Beispiele hierfür sind z.B. der bemalte Ranftbecher mit dem Porträt des alliierten Feldherrn Karl Philipp Fürst Schwarzenberg oder die Porzellantasse mit einem Gemälde des Siegesdenkmals der Verbündeten bei Berlin.

Der prominenteste militärische Denker des frühen neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland war der preußische Generalmajor Carl von Clausewitz (1780–1831). Seine Abhandlung Vom Kriege, die auf seinen eigenen Erfahrungen in den napoleonischen Kriegen sowie auf seinem eingehenden Studium der Militärgeschichte beruhte, verfasste er in den 1820er Jahren. Sie wird bis heute von Militärstrategen zitiert. Sein berühmter Satz „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ wird vielen Leser/innen bekannt sein. Die hier ausgewählten Texte betonen jedoch das Wesen der Kriegführung, wie sie im frühen neunzehnten Jahrhundert verstanden wurde. Clausewitz bemerkte die zunehmende Dominanz der Infanterie gegenüber den anderen Waffengattungen und beschrieb die Schwierigkeiten, sie effektiv einzusetzen: lange Märsche ermüdeten und desorganisierten eine Armee; defensive Operationen waren eher erfolgreich als offensive. Gleichzeitig wies er darauf hin, dass die Kriegführung seit dem späten siebzehnten Jahrhundert immer größere Ausmaße annahm und immer stärker auf breitere Ziele und den totalen Sieg ausgerichtet war. Strategisch machte dies aggressive Operationen notwendig, um den totalen Sieg herbeizuführen, während die Militärtaktik davon ausging, dass solche Operationen wenig Aussicht auf Erfolg hatten.

Eine Lösung dieses Dilemmas sollte Helmuth von Moltke (1800–1891), ab 1857 Chef des preußischen Generalstabs, finden. In seinem Memorandum von 1861 stellte Moltke fest, dass Verbesserungen in der Militärtechnik—vor allem beim Drall von Geschützrohren und Artilleriegeschützen sowie die Einführung schnellerer Hinterlader—die Feuerkraft der Armeen stark erhöhen würden. Damit würde die Feuerkraft das Schlachtfeld dominieren, was Frontalangriffe und Bajonettangriffe im Stil der napoleonischen Ära in flachem Gelände unmöglich machen würde. Nachdem vernichtendes Infanterie- und Artilleriefeuer den Gegner geschwächt hatten, starteten tiefe Formationen mit umfangreichen Reserven entscheidende Flanken- und Umzingelungsangriffe, wobei sie topografische Besonderheiten bei ihrem Vormarsch ausnutzten.

Wie sollten die Truppen aber überhaupt erst zum Schlachtfeld gelangen, um die von Clausewitz aufgezeigten Schwierigkeiten der langen Märsche zu vermeiden? Moltkes Antwort lautete, dass sie mit der Eisenbahn zum Einsatzort befördert würden. In seinem Memorandum vom April 1866 über die Möglichkeit eines Krieges zwischen Preußen und Österreich stellte Moltke fest, dass Preußen zwar Österreich und seinen Verbündeten unter den deutschen Staaten zahlenmäßig weit unterlegen war, dass aber die preußische Armee durch die effektive Nutzung der Eisenbahn mehr Männer an die Front in Sachsen und Böhmen bringen konnte als die Österreicher, und genau das geschah, als der Krieg zwei Monate später ausbrach.

Moltkes neue Taktik sollte sich als so erfolgreich erweisen, weil nur Preußen allein sie anwandte. Das österreichische Kaiserreich, Preußens diplomatischer und militärischer Hauptrivale unter den Staaten des Deutschen Bundes, setzte weiterhin die Bajonettladungen der napoleonischen Zeit auf dem Schlachtfeld ein, mobilisierte seine Truppen langsam und vorsichtig, größtenteils zu Fuß, und verließ sich mehr auf Festungen als auf Eisenbahnen. Solche Defizite des österreichischen Militärs betonte der preußische Offizier Prinz Kraft zu Hohenlohe-Ingelfingen (1827–1892) in seinen posthum veröffentlichten Memoiren, die hier in Auszügen wiedergegeben werden.

6. Wirtschaft und Arbeit

In den Jahren 1815–66 machten sich die Anfänge der Industrialisierung in den deutschen Territorien bemerkbar. Traditionelle Herstellungsprozesse und handwerkliche Arbeit erlebten ein Wachstum, während neue Technologien und Industrien wie Dampfmaschinen und Eisenbahnen aufkamen. Solche Entwicklungen waren auffällig und zogen die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich, wie das Bild der Borsig-Werke bei Berlin oder die Medaillen zur Eröffnung der Eisenbahnlinien zwischen Leipzig und Dresden sowie Wien und Brünn im Jahr 1839 zeigen. Sogar in der materiellen Kultur fanden die neuen Technologien auf populärer Ebene Beachtung, wie etwa mit einer Tischdecke, die mit Abbildungen von Eisenbahnlokomotiven und anderen Beispielen der Dampfkraft geschmückt war.

In diese Zeit fällt auch die zunehmende Durchsetzung der freien Marktwirtschaft in den deutschen Staaten und die Abschaffung von Schranken für die Marktfreiheit, wie z. B. die Grundherrschaft in der Landwirtschaft, das Zunftwesen im Handwerk und die Schutzzölle im internationalen Handel. Diese Veränderungen waren jedoch hart umkämpft, und die Gegner der verschiedenen Aspekte der freien Marktwirtschaft wehrten sich energisch gegen die wirtschaftliche Liberalisierung.

Großbritannien war das große Vorbild für die Befürworter der freien Marktwirtschaft im 19. Jahrhundert, und der führende Wortführer für den Freihandel in Deutschland in dieser Zeit war ein Engländer, John Prince-Smith (1809–1874), der 1831 in die preußische Stadt Elbing zog, um Englisch zu unterrichten und schließlich preußischer Untertan wurde. Prince-Smith war einer der Gründer des Kongresses der deutschen Volkswirte, einer Debattier- und Lobbygruppe, die sich für den Freihandel einsetzte. Auszugsweise sind hier Aufsätze von Prince-Smith aus den Jahren 1843 und 1845 über Freihandel und Protektionismus wiedergegeben, in denen er die Vorzüge des Freihandels und die Bedeutung der Nichteinmischung der Regierung in die Wirtschaft argumentierte. Prince-Smith war darauf bedacht, seine Befürwortung des freien Marktes sowohl mit den Helden der preußischen Reformära des frühen neunzehnten Jahrhunderts zu verbinden, die ihre eigenen Schritte in Richtung eines freien Marktes getan hatten, als auch mit dem ersten Bau von Eisenbahnen und der Entwicklung der Fabrikindustrie in Mitteleuropa seit den 1830er Jahren.

Die Einführung der freien Marktwirtschaft im Deutschland des 19. Jahrhunderts beinhaltete zwei verschiedene Arten von Freiheit, und die Befürworter der einen waren nicht immer auch die Befürworter der anderen. Die eine war die Handelsfreiheit, welche die Abschaffung von Zöllen, Einfuhrverboten und anderen Beschränkungen des Warenverkehrs von einem Staat zum anderen beinhaltete. Die andere war die Gewerbefreiheit, also die Freiheit, ein beliebiges Gewerbe oder Handwerk auszuüben, und damit eng verbunden die Freiheit, sich niederzulassen, wo man wollte. Die Hauptfeinde der Gewerbefreiheit waren die Zünfte, deren Mitglieder entschlossen waren, die Anzahl der Personen, die ein Handwerk ausüben durften, zu beschränken und die Ausübung des Handwerks sehr genau zu regulieren. Die deutschen Stadtstaaten, Frankfurt, Hamburg, Bremen und Lübeck, waren Hochburgen der Zünfte. Die Wirtschaft dieser Städte war weitgehend vom internationalen Handel abhängig, und ihre Regierungen waren starke Befürworter der Handelsfreiheit, aber sie waren auch generell gegen die Gewerbefreiheit. Karl Victor Böhmert (1829–1918) war Ökonom und Wirtschaftspublizist in Bremen und engagierte sich im Kongress der deutschen Volkswirte. In seinem Buch über die Gewerbefreiheit von 1858, aus dem hier Auszüge wiedergegeben sind, setzte er sich mit den Bremer Befürwortern des Zunftwesens auseinander. Er zitierte Befürworter des Zunftwesens, die behaupteten, die Zünfte stärkten das Bürgertum, verhinderten das Anwachsen eines verarmten Proletariats und verbesserten die sittlichen Lebensqualitäten der Handwerker und Arbeiter, um dann zu argumentieren, dass genau das Gegenteil der Fall sei, dass nämlich die Gewerbefreiheit diese erstrebenswerten Zustände fördere, während die Vorschriften des Zunftwesens sie verhinderten.

Vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts machten wiederholte Wirtschaftskrisen sowie Anzeichen für eine zunehmende Verarmung großer Teile der Bevölkerung Ideen der wirtschaftlichen Deregulierung unpopulär. Selbst Befürworter des freien Marktes hatten ihre Zweifel. Ein Auszug zur Gewerbsfreiheit aus Rottecks und Welckers liberalem Staats-Lexikon rügte die Zünfte scharf und forderte die Einführung der Gewerbefreiheit. Dennoch konnte der Autor nicht umhin festzustellen, dass ein freier Markt an Arbeitskräften zur Herrschaft der großen Kapitalisten über die kleinen Betriebe zu führen schien. Er lehnte jede Form von staatlicher Intervention ab und war der Ansicht, dass die Lösung dieses Problems in freiwilligen Vereinigungen, Genossenschaften und Bildungsangeboten zu finden sei—Ideen, die unter den deutschen Anhängern einer freien Marktwirtschaft weit verbreitet waren, wie in Böhmerts oben erwähntem Aufsatz über die Gewerbefreiheit.

Einer der prominentesten Kritiker des Freihandels war der Journalist und Wirtschaftswissenschaftler Friedrich List (1789–1846). In seinem berühmtesten Werk Das Nationale System der politischen Oekonomie (1841), das hier in Auszügen wiedergegeben ist, kritisierte List Adam Smith und seine Nachfolger. Gestützt auf seine Erfahrungen in den Vereinigten Staaten und auf die Ideen von Alexander Hamilton argumentierte List, dass der freie Handel zwischen den Nationen wirtschaftlich und industriell fortgeschrittenere Länder wie Großbritannien begünstige und für industriell weniger fortgeschrittene Länder wie Deutschland schädlich sei. Diese Länder sollten Schutzzölle auf Industriegüter einführen, um ihre Produktionskapazitäten zu fördern. Im weiteren Sinne plädierte List für eine spezifisch nationale Sichtweise der wirtschaftlichen Entwicklung und für eine Politik, die darauf abzielt, die Fähigkeiten der Arbeitskräfte als Mittel der wirtschaftlichen Entwicklung zu verbessern. Lists Ideen waren im Deutschland des 19. Jahrhunderts sehr einflussreich, und seine Werke werden seit dem späten 19. Jahrhundert bis heute in Ostasien mit Interesse gelesen.

Während er den Protektionismus im internationalen Handel befürwortete, glaubte List an den freien Handel zwischen den deutschen Staaten und an die Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit innerhalb der Staaten. Allerdings gab es in dieser Zeit viele Kritiker der Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit und viele Befürworter der Zünfte. Eines ihrer Hauptargumente war, dass die Einführung solcher Freiheiten tatsächlich ein Akt bürokratischer Unterdrückung war, der einer unwilligen Bevölkerung von autoritären Regierungsbeamten aufgezwungen wurde. Der Volkskundler und konservative Journalist Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897) artikulierte diese Idee mit Verve und Klarheit in seinem einflussreichen Buch Die bürgerliche Gesellschaft (1851).

Die aufkommende sozialistische Bewegung war, wie zu erwarten, kein Freund des freien Marktes. In dem vorliegenden Auszug aus Ferdinand Lassalles „Offenes Antwortschreiben“ von 1863 erklärt der Sozialistenführer unter Berufung auf die britische liberale politische Ökonomie sein „ehernes Lohngesetz“, demzufolge das Wirken des freien Arbeitsmarktes die Löhne der Arbeiter unweigerlich und unabwendbar auf ein Existenzminimum reduziere.

In der Zeit von 1815–1866 entwickelte sich auch in Deutschland eine spezifisch römisch-katholische Sozial- und Wirtschaftslehre. Derjenige, der diese Lehre stärker als jeder andere artikulierte, war der Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811–1877). Ketteler griff sowohl die konservative Kritik an der Gewerbefreiheit als auch Lassalles „ehernes Lohngesetz“ auf und verurteilte die freie Marktwirtschaft und die politischen Liberalen, die sie befürworteten, aufs Schärfste. Doch im Gegensatz zu vielen anderen katholischen oder konservativen Kritikern des freien Marktes hatte er seine Zweifel am Zunftwesen, wobei er die Vorteile des wirtschaftlichen Wettbewerbs für die Verbraucher hervorhob, und er lehnte die Idee staatlicher wirtschaftlicher Eingriffe ab. Ketteler war der Meinung, dass die katholische Kirche am besten zur Lösung der sozialen Frage beitragen konnte, indem sie Wohltätigkeit anbot, die Arbeiter zu einem moralischen und religiösen Leben anhielt und wohlhabende und fromme Katholiken dazu ermutigte, die Gründung von Produktionsgenossenschaften zu finanzieren.

7. Natur, Umwelt und Region

Die Feststellung, dass der Umweltgedanke im modernen Sinne des Gefühls, dass industrielle und technische Entwicklungen die natürliche Welt bedrohen, in Deutschland zwischen 1815 und 1866 nicht existierte, ist durchaus berechtigt. Industrialisierung und Verstädterung standen in diesen Jahren erst am Anfang, und die Betonung lag eher auf den Möglichkeiten zur Beherrschung der Natur durch moderne technische Entwicklungen als auf den potenziellen Gefahren. Sicherlich gab es Fälle, in denen gasförmige oder flüssige Ableitungen der ersten Fabriken Schäden in ihrer Umgebung verursachten und die Nachbarn verärgerten oder beunruhigten. Frühe staatliche Regulierungen solcher Emissionen und rechtliche Doktrinen, die sie als öffentliches Ärgernis behandelten, ähnlich wie diejenigen, die aus einer überlaufenden Senkgrube entstehen könnten, waren keine besonders effektiven Instrumente, um mit solchen noch relativ seltenen Entwicklungen umzugehen. Wie die hier vorliegenden Dokumente zeigen, waren die Zeitgenossen ziemlich unsicher, was sie von diesen neuen Entwicklungen halten und dagegen tun sollten.

So wurde 1816 in der westfälischen Stadt Iserlohn eine chemische Fabrik gegründet. Schon 1830 gab es Beschwerden von Nachbarn und staatliche Maßnahmen dagegen, aber wie die hier präsentierten Dokumente zeigen, schien nie etwas dagegen unternommen worden zu sein. 1853 wurde die Fabrik schließlich stillgelegt.

Im Jahr 1862 reichte eine Gruppe von Ulmer Bürgern eine Petition an das Königliche Ministerium des Innern ein, in der sie sich über die Verschmutzung durch den vermehrten Einsatz von Kohle als Brennstoff in größeren Produktionsanlagen beschwerten. Die Bayerische Central-Stelle für Gewerbe und Handel räumte zwar ein, dass die Beschwerden der Petenten berechtigt seien, konnte aber keine wirksamen Maßnahmen vorschlagen, sondern meinte, die Ulmer müssten sich eben daran gewöhnen. Dass die Verbrennung von kohlenstoffbasierten Brennstoffen zu Problem im Zusammenhang mit der Klimaerwärmung führen könnten, drang erst in jüngerer Zeit in das Bewusstsein von Bevölkerung und Regierung ein.

Im 19. Jahrhundert begannen die deutschen Mediziner gerade erst, sich der möglichen Gesundheitsgefahren der industriellen Verschmutzung bewusst zu werden. Ein Auszug aus einem klinischen Bericht über eine Autopsie, die 1860 in der medizinischen Fachzeitschrift Deutsche Klinik von Professor Ludwig Traube (1818–1876), einem Arzt an der Charité, dem mit der Universität Berlin verbundenen Krankenhaus, veröffentlicht wurden, zeigt, dass die deutsche Medizin begann, ein Verständnis für das schwarze Lungenödem als eine spezifische Krankheit zu entwickeln, die mit dem Einatmen von Kohlenstaub verbunden war und sich von den vielen anderen Atemwegserkrankungen (Grippe, Lungenentzündung, Bronchitis, Tuberkulose) unterschied, die zu dieser Zeit bekannt waren.

Während der moderne Umweltgedanke noch nicht existierte, blühte die romantische Idealisierung der organischen Natur und der als natürlich verstandenen Landschaften auf und trug zum Wachstum des frühen ökologischen Denkens bei, wie in der Betonung des Zusammenspiels der verschiedenen Komponenten von Klima, Geographie und Biosphäre im Denken des preußischen Entdeckers und Naturforschers Alexander von Humboldt oder in der Blüte der romantischen Landschaftskunst in dieser Epoche. Der Diskurs der deutschen Forstwirtschaft in dieser Zeit war ebenfalls bedeutsam in seinem Streben nach einer nachhaltigen Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen angesichts der drohenden landwirtschaftlichen und industriellen Abholzung. Solche Ideen waren auch im kolonialen Bereich einflussreich, nicht nur nach dem Erwerb eigener Kolonien durch das Kaiserreich, sondern auch in den kolonialen Besitzungen anderer europäischer Staaten, wie hier im Auszug aus dem Bericht des deutschstämmigen Forstbeamten Dietrich Brandis (1824–1907) über die Teakwälder Myanmars, wo er im Dienst des britischen Empire arbeitete. Die hier auszugsweise wiedergegebene Denkschrift von Johann Gottfried Tulla (1770–1828) über das Projekt der Begradigung des Rheins als Hochwasserschutzmaßnahme offenbart auf ihre Weise die Balance zwischen dem prometheischen Glauben an die Macht von Wissenschaft und Technik, die Natur zu beherrschen, und der ökologischen Betonung der Harmonie der Naturkräfte und der Rolle menschlicher Produktionstätigkeiten, die natürliche Gleichgewichte überhaupt erst stören.

Ein Großteil der Diskurse und der Politik rund um Landschaften und die Auswirkungen der Industrialisierung rührte von den Spannungen zwischen städtischem und ländlichem Leben her. Wilhelm Heinrich Riehl war ein scharfsinniger, wenn auch bisweilen tendenziöser Beobachter der deutschen Regionen und ihrer ländlichen und städtischen Gebiete. In dieser Auswahl aus Land und Leute (1854) argumentiert er, dass Deutschland in drei Regionen eingeteilt werden könne, die jeweils durch ein ausgeprägtes Verhältnis zwischen Stadt und Land gekennzeichnet seien. Unsere Leser/innen sollten bedenken, dass Riehls sehr scharfe Beobachtungen mit politisch aufgeladenen Werturteilen beladen waren, vor allem seine Annahme, dass Menschen, die in der Stadt und auf dem Land leben, sehr unterschiedlich sein müssten.

Ein zweiter Auszug aus Riehls Die bürgerliche Gesellschaft (1851) befasst sich mit dem Fortbestehen regionaler Identitäten unter der deutschen Landbevölkerung in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die auf das alte deutsche Regime zurückgingen, bevor die Französische Revolution und die Napoleonische Ära sowie der Wiener Kongress die Territorien der deutschen Staaten drastisch verändert hatten. Eines der bestimmenden Merkmale der deutschen Geschichte in dieser Zeit und im Allgemeinen war die Vielfalt der politischen Einheiten und Regionen, aus denen sie sich zusammensetzte, die weit über ein Stadt-Land-Gefälle hinausging. Diese Vielfalt fand sowohl in Texten als auch in Bildern ihren Widerhall und Kommentar.

Wenn Deutsche an eine Region denken, die provinziell ist, denken sie oft an die Pfalz am westlichen Ufer des Rheins, im äußersten Südwesten Mitteleuropas. Der Schriftsteller und Journalist August Becker (1826–91) schrieb 1857 einen berühmten Reiseführer über die Pfalz, der mit einer allgemeinen Beschreibung der Region und ihrer Bewohner begann. Zu Beckers Version dessen, was eine Region ausmacht, gehören natürliche Merkmale wie Klima und Topographie, historische Erfahrungen, volkstümliche Bräuche und soziale Praktiken. Auch das Verhältnis der Region zur staatlichen Autorität (in diesem Fall das Königreich Bayern) und zur Idee eines deutschen Nationalstaates ist ihm wichtig. Beckers politische Sympathien lagen bei den Liberalen, und für Studierende mag es interessant sein, seine Ideen darüber, was eine Region ausmacht, mit denen seines konservativen Zeitgenossen Riehl zu vergleichen.

Die Jahre 1815–66 waren keine Periode schneller Verstädterung in Deutschland; erst nach ca. 1850 begann die Bevölkerung in den Städten schneller zu wachsen als die Gesamtbevölkerung. Es gab in den deutschen Staaten kein dominantes urbanes Zentrum, wie es Paris, London, Lissabon oder Kopenhagen in anderen europäischen Ländern waren. Die am schnellsten wachsende deutsche Großstadt war die preußische Hauptstadt Berlin. Das 1846 erschienene Buch des Schriftstellers und Sozialisten Ernst Dronke über die Hauptstadt erregte Aufsehen und führte zu seiner Verhaftung durch die preußischen Behörden. Die hier wiedergegebenen Auszüge zeichnen ein Bild vom Leben in der Metropole: rasant, unmoralisch, vielfältig und anonym. Als Sozialist beschreibt Dronke Berlin auch als eine Stadt des expandierenden Kapitalismus und des Arbeiterelends. Schaut man sich jedoch seine Beschreibung der Arbeiter genauer an, findet man eine lange Liste von vorindustriellen Handwerksbetrieben und Handwerksmeistern, die von Handelskapitalisten abhängig sind, aber nur wenige Fabrikarbeiter. Das Berlin, das Dronke hier beschreibt, scheint einer vorindustriellen europäischen Stadt des 18. Jahrhunderts stärker zu ähneln als den späteren industriellen Zentren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, wie es Berlin selbst werden sollte.

8. Geschlecht und Familie

Die vorherrschenden und weithin akzeptierten Vorstellungen über Familie und Geschlecht in dieser Zeit werden an zwei Einträgen des Staats-Lexikons verdeutlicht. Im ersten Eintrag zu „Familie, Familienrecht“ schrieb der Herausgeber des Lexikons, Carl von Rotteck, dass die Ehe die moralische und rechtliche Grundlage der Familie sei. Die Ehe sei eine auf gegenseitiger Liebe und Zuneigung beruhende Vereinigung zweier Menschen zu einer einheitlichen Persönlichkeit unter der Kontrolle des Mannes. Die Ehe war auch eine Eigentumsbeziehung, in der wiederum der Ehemann für den Familienbesitz zuständig war, in der aber die Ehefrau bestimmte Rechte an ihrem Eigentum behielt. Schließlich waren Familien Hierarchien, in denen die Eltern die Autorität über ihre minderjährigen Kinder hatten und der Haushaltsvorstand die Autorität über die Bediensteten, die als Mitglieder der Familie angesehen wurden.

Der zweite Eintrag, „Geschlechterverhältnisse“ befasst sich mit den angeblichen Unterschieden zwischen Männern und Frauen und den politischen Konsequenzen dieser Unterschiede. Der Autor, der zweite Herausgeber des Staats-Lexikons, Carl Welcker, greift ein gängiges zeitgenössisches Thema auf und behauptet, dass Männer und Frauen von Natur aus verschieden seien. Erstere seien aktiv, kraftvoll und rational, ihr Leben sei vor allem nach außen gerichtet, letztere passiv, annehmend und emotional, ihr Leben sei nach innen auf Familie und Haushalt ausgerichtet. Folglich, so Welcker, sollten nur Männer das Recht auf aktive politische Beteiligung haben. Er lehnte die Ideen der Konservativen ab, die glaubten, dass arme Männer nicht mehr Rechte haben sollten als Frauen, ebenso wie die Ideen der Feministinnen, die argumentierten, dass Frauen die gleichen politischen Rechte wie Männer haben sollten. Gleichzeitig war Welcker der Meinung, dass Frauen bis zu einem gewissen Grad am öffentlichen Leben teilnehmen könnten, indem sie ihre weiblichen Qualitäten der Empathie und Fürsorge nutzen, um Vereine zu gründen, Petitionen an die Regierung zu richten und bei Sitzungen der parlamentarischen Gremien Zuschauerinnen zu sein.

Man mag sich fragen, inwieweit diese Vorstellungen von Familie und Geschlecht den tatsächlichen Verhältnissen entsprachen. Wilhelm Heinrich Riehl hatte seine Zweifel. Er stellte fest, dass das Ideal der getrennten Sphären—Männer bei der Arbeit in der Öffentlichkeit, Frauen zu Hause bei der Familie—vor allem im Leben der Oberschicht zu beobachten war, während sich beim einfachen Volk die gemeinsamen Aktivitäten von Männern und Frauen viel stärker überschnitten. Damals wie heute gab es in den Großstädten Gruppen von Einwohnern, deren Privatleben sich stark von den herrschenden Idealen unterschied. In seinem 1846 erschienenen Buch Berlin beschrieb der Schriftsteller Ernst Dronke (1822–91) zwei Beispiele für städtische Phänomene. Das eine war die Kommerzialisierung der Ehe in Form von Heiratsvermittlern, die Menschen vor allem auf der Basis ihres Vermögens zusammenbrachten und damit die Idee der Ehe als Vereinigung zweier Menschen auf der Grundlage gegenseitiger Liebe und Zuneigung ad absurdum führten. Das andere Beispiel war die Welt der intellektuellen Boheme, deren Mitglieder die Emanzipation der Frau unterstützten, unverheiratet zusammenlebten, und generell die Vorstellung, die Ehe sei die moralische und religiöse Grundlage des Familienlebens, ablehnten.

Auch frühe deutsche Feministinnen übten zum Teil Kritik an den herrschenden Ehevorstellungen. Die Schriftstellerin und politische Aktivistin Louise Otto (1819–95) missbilligte in der Frauen-Zeitung (deren Redakteurin sie war), dass die Ehe auf dem Lande ausschließlich auf Eigentum basierte und gegenseitige Liebe und Zuneigung keine Rolle spielten (welche selbst die Autoren des Staats-Lexikons als notwendig für die Ehe ansahen).

Der politische Aktivismus von Frauen in Mitteleuropa war während der Revolution von 1848/49 am sichtbarsten. Wie die Beispiele hier zeigen, stand ihr Aktivismus typischerweise eher in Übereinstimmung mit den im Staats-Lexikon ausgedrückten Geschlechteridealen als in Opposition zu ihnen. Frauen konnten auf diese Weise die Akzeptanz der Geschlechterdifferenz als Grundlage nehmen, um für Verbesserungen ihres Rechtsstatus und für größere öffentliche oder politische Rollen zu argumentieren. Im Appell der verheirateten Frauen und Jungfrauen Württembergs an die deutschen Soldaten etwa nutzten Frauen ihre Stellung in Haushalt und Familie und ihren Status als primär liebende und emotionale Wesen, um Männer zu politischem Handeln zu bewegen. Louise Ottos Grundsatzerklärung, veröffentlicht in der ersten Ausgabe ihrer Frauen-Zeitung (21. April 1849), zeigt ebenfalls die vorsichtige Distanz, die sie zu „emanzipierten“ Feministinnen hielt, die jegliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen leugneten. Die Dokumente des Demokratischen Frauenvereins in Wien, wo Frauen während der Revolution besonders aktiv waren, stellten eine größere Herausforderung für liberale Vorstellungen über die Geschlechter dar. Tatsächlich wurde der Verein als Antwort auf die gewaltsame polizeiliche Unterdrückung eines Protests von Arbeiterinnen im Wiener Prater gegründet. In diesem Zusammenhang sollte zudem betont werden, dass auch Frauen auf den Barrikaden in Berlin und Wien im Frühling 1848 kämpften und ums Leben kamen. Doch auch die Aktivitäten des Wiener Frauenvereins folgten in der Regel den für Frauen vorgegebenen Bahnen.

Der politische Aktivismus der Frauen in Deutschland wurde nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 unterdrückt und lebte erst in den 1860er Jahren wieder auf. 1865 wurde die erste nationale Frauengruppe gegründet, der Allgemeine Deutsche Frauenverein. Aus den Statuten und dem Bericht der Vorsitzenden Louise Otto von 1869 geht hervor, dass die Bemühungen des Vereins vor allem auf die Verbesserung der Bildung und der Berufschancen von Frauen gerichtet waren. Die Vorstellung von Frauen in der Arbeitswelt, insbesondere von Frauen aus dem Bildungsbürgertum, stellte noch immer eine Herausforderung für die im Staats-Lexikon formulierten Geschlechterideale dar, welche das Tätigkeitsfeld der Frau in Haushalt und Familie verorteten. Auch der 1866 in Berlin von einem Mann, Professor Wilhelm Adolph Lette, gegründete „Verein zur Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts“ hatte das Ziel, jungen Frauen aus dem Bürgertum eine Ausbildung zu ermöglichen und sie in die Lage zu versetzen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, ohne verheiratet sein zu müssen.

All diese Formen der Frauenaktivität waren weit davon entfernt, allgemeine Unterstützung und Befürwortung zu finden. Vor allem die politisch Konservativen lehnten es ab, dass Frauen im öffentlichen Leben eine Rolle spielen sollten. Wilhelm Heinrich Riehl greift in einem anderen Ausschnitt die vorherrschenden Vorstellungen über die Unterschiede zwischen Männern und Frauen auf und nutzt sie, um nicht nur „emanzipierte“ Frauen wie die Autorin Louise Aston, sondern alle Formen der außerhäuslichen Tätigkeit von Frauen anzugreifen.

Die Reichweite der Ideologie der Geschlechterdifferenz zeigt sich auch in Kunst und Design, wie im Gemälde Vor dem Spiegel (1827) von Georg Friedrich Kersting oder in der häuslichen Szene, das das biedermeierliche Lesepult ziert. Ein Gemälde wie Caspar David Friedrichs Caroline am Fenster (1822) fing wiederum einige der Spannungen ein, die mit der Beschränkung der Frauen auf den privaten häuslichen Bereich und ihrem Ausschluss von der nach außen sichtbaren öffentlichen Welt verbunden waren.

9. Religion

Die ersten zwei Drittel des neunzehnten Jahrhunderts waren eine Zeit wachsender Säkularisierung in Deutschland, vor allem in der gebildeten protestantischen Mittelschicht. Im Gegensatz zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts nahm diese Säkularisierung nicht die Form einer Opposition gegen die christliche Offenbarungsreligion an; vielmehr entstand sie aus dem Christentum selbst heraus. Ein herausragendes Dokument dieser Entwicklung stellt das 1835 erschienene Buch Das Leben Jesu des protestantischen Theologen David Friedrich Strauss (1808–74) dar. Unter Anwendung der historisch-kritischen Methode, die von deutschen protestantischen Theologen entwickelt wurde, um ein besseres Verständnis der Bibel zu entwickeln, kam Strauss zu dem Schluss, dass die Berichte der Evangelien über die Wunder, den Tod und die Auferstehung Jesu spätere, mythische Einfügungen in die Lebensgeschichte einer sterblichen Figur waren. Mehr noch, er behauptete, dass die Ideale der Lehre Jesu in einem säkularen Humanismus besser zum Ausdruck kämen als in der protestantischen Doktrin. Das Buch kostete Strauss seine Stelle an der Universität Tübingen, und seine Berufung als Professor für protestantische Theologie an der Universität Zürich im Jahr 1839 wurde von einem Mob wütender gläubiger Protestanten vereitelt, doch die von ihm geäußerten Ideen übten weiterhin einen Einfluss auf das gesamte neunzehnte Jahrhundert aus.

Während die Jahre 1815–66 eine Periode wachsender Säkularisierung waren, so waren sie paradoxerweise auch eine Periode religiöser Wiederbelebung. Unter den römischen Katholiken Mitteleuropas entwickelte sich ein wachsender Glaube an die Gültigkeit religiöser Praktiken und Überzeugungen, die vom aufgeklärten 18. Jahrhundert abgelehnt worden waren: die Verehrung der Jungfrau Maria, das Beten des Rosenkranzes, Wallfahrten und Prozessionen sowie das göttliche Eingreifen in menschliche Angelegenheiten in Form von Wundern. Die große Wallfahrt zum Heiligen Rock von Trier 1844 war ein frühes Beispiel für diese Form der Frömmigkeit. Etwa eine halbe Million Pilger zog in jenem Jahr zum Trierer Dom, um die Tunika (das nahtlose Gewand, das Christus laut Johannes-Evangelium vor seiner Kreuzigung trug) öffentlich ausgestellt zu sehen. Jacob Marx (1803–76), Professor am Trierer Theologischen Seminar, beschrieb die Wallfahrt im Sinne einer Wiederbelebung der katholischen Frömmigkeit.

Auch viele deutsche Protestanten erlebten zu dieser Zeit eine religiöse Wiederbelebung, die von den Zeitgenossen als „Erweckung“ bezeichnet wurde. Die „Erweckten“, welche die rationalistischen Ideen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts sowie deren Fortsetzung in den Lehren des Philosophen G. W. F. Hegel und seiner Anhänger (wie z.B. David Strauss) entschieden ablehnten, waren wiedergeborene Christen, die eine persönliche Beziehung zu Jesus empfanden und die biblische Offenbarung über die menschliche Vernunft stellten. Als Gruppe waren sie sehr aktiv in der Gründung von Organisationen und Vereinen für wohltätige und fromme Zwecke. Missionsgesellschaften, die das Evangelium zu den „Heiden“ und Juden bringen sollten, waren ein bevorzugtes Projekt der erweckten deutschen Protestanten. Der Bericht über die Gründung von Missionsgesellschaften in Elberfeld und Barmen—zwei Industriestädte in Westdeutschland, in denen die Erweckungsbewegung sehr einflussreich war—zeigt sowohl den theologischen als auch den intellektuellen Kontext der Erweckungstheologie. Die ersten Anhänger, die oft nur wenige waren und sich in Konventikel versammelten, verstanden sich als Teil einer internationalen protestantischen Bewegung der religiösen Erweckung und lehnten sowohl den protestantischen Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts als auch die Ideen der Französischen Revolution ab.

Einer der führenden Erweckungstheologen in Deutschland war Friedrich August Tholuck (1799–1877), Professor für Theologie an der Universität Halle von 1825 bis zu seinem Tod. Als produktiver Gelehrter und aktiver Prediger kämpfte Tholuck für einen erweckten Protestantismus und bekämpfte religiöse Rationalisten von der Kanzel, bei Fakultätsversammlungen, im Hörsaal und in wissenschaftlichen Schriften und polemischen Aufsätzen. Auszugsweise sind hier zwei Predigten wiedergegeben, die er in der Universitätskapelle in Halle vor Studenten der evangelischen Theologie hielt. Die erste, „Was ist die menschliche Vernunft wert?“, stammt aus den frühen 1840er Jahren und setzt den Bemühungen von Rationalisten wie David Friedrich Strauss, biblische Texte kritisch zu zerlegen, entgegen, dass die menschliche Vernunft nur dann wertvoll sei, wenn sie unter der Leitung göttlicher Inspiration, wie sie in der Offenbarung niedergelegt ist, ausgeübt wird. Die zweite, „Wann ist die größere bürgerliche Freiheit für ein Volk ein Glück?“, die er während der Revolution von 1848 hielt, ist äußerst kritisch gegenüber der Revolution und den Forderungen nach Freiheit, Demokratie und Bürgerrechten. Sie zeigt die stark konservative politische Ausrichtung der meisten gläubigen deutschen Protestanten jener Zeit.

Auch innerhalb vieler jüdischer Gemeinden in Deutschland gab es Auseinandersetzungen zwischen rationalistischen und eher orthodoxen Tendenzen, die mit unterschiedlichen Positionen über den Grad der Emanzipation und Akkulturation, der als wünschenswert erachtet wurde, zusammenhingen und parallel verliefen. In den Jahrzehnten zwischen 1815 und 1870 entfalteten sich die Debatten, die zur Entwicklung vieler der verschiedenen jüdischen Konfessionen von heute führten, wobei sich in Deutschland reformierte, konservative und orthodoxe Gemeinden bildeten. Ein solch einflussreiches Moment in der Entstehung der unterschiedlichen jüdischen Konfessionen war der Streit um ein neues Gebetbuch im gerade gegründeten Hamburger Tempelverein, der selbst ein Spalt oder ein Element der Zersplitterung innerhalb der jüdischen Gemeinde Hamburgs war (mit ca. 10.000 Mitgliedern im Jahr 1815 die größte in Norddeutschland). Eine erste Phase der Debatte fand bereits 1817/18 statt, aber in den frühen 1840er Jahren brach ein erneuter Konflikt aus, in dem sich führende Vertreter jedes der Hauptstränge der jüdischen Theologie und Praxis zu Wort meldeten. Die Schilderung des darauffolgenden sogenannten Zweiter Hamburger Tempelstreits ist hier der von Ludwig Philippson (1811–1889) herausgegebenen Allgemeinen Zeitung des Judenthums entnommen, die eines der einflussreichsten Organe der jüdischen Presse war und im Allgemeinen eine mittlere Position zwischen den rationalistischen und orthodoxen Tendenzen einnahm.

Zwischen dem Wachstum eines säkularen Humanismus einerseits und einem religiösen Wiedererwachen andererseits wurde es in den Jahren 1815–66 immer schwieriger, einen religiösen Mittelweg zu finden, der versuchte, die Offenbarungsreligion mit den Entwicklungen in der Wissenschaft und der kritischen humanistischen Gelehrsamkeit zu versöhnen. Angehörige aller Religionen in Deutschland versuchten, dies zu tun, obwohl Bemühungen in dieser Richtung unter Katholiken weniger verbreitet waren als unter Juden und Protestanten. Ein prominentes Beispiel für einen solchen Versuch war die Gründung des Protestantenvereins auf einer Tagung in der thüringischen Stadt Eisenach 1865. Daniel Schenkel (1813–1885), Theologieprofessor an der Universität Heidelberg, einem Zentrum des religiösen Rationalismus in Deutschland, war einer der Mitbegründer des Vereins. Auszüge aus einem Pamphlet, das er schrieb, um die Existenz der Organisation zu rechtfertigen, umreißen einige der Hauptargumente, die verwendet wurden, um einen Platz zwischen dem rationalistischen Humanismus und der religiösen Erweckungsbewegung zu schaffen. Schenkels Unterscheidung zwischen Religion und Kirche und seine Definition des Protestantismus im Sinne von Gewissensfreiheit und individueller geistiger Ergründung ergaben ein ganz anderes Bild von Religion als das von Tholuck, das auf biblischer Offenbarung beruhte. Schenkels Verknüpfung des Protestantismus mit der deutschen Nation und der Forderung nach kritischem Denken seitens des gebildeten deutschen Bürgertums suggerierte eine Religion, die mit Liberalismus und Nationalismus einherging, wiederum anders als Tholucks Ansichten über Religion und Politik. Die Losung des Protestantenvereins, sein Aufruf zur „Erneuerung der protestantischen Kirche im Geist evangelischer Freiheit und im Einklang mit der gesammten Culturerntwicklung unserer Zeit“, sollte einen Weg vorschlagen, die protestantische Religion mit den neuen Tendenzen in Wissenschaft und Gelehrsamkeit zu versöhnen und gleichzeitig die Ideale der Reformation zu bewahren.

10. Literatur, Kunst, Musik und Kultur

In der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts herrschten in Mitteleuropa zwei Kulturstile vor: Klassizismus und Romantik. Ersterer betonte handwerkliche Vollendung, Eleganz und Proportion in der Kunst; seine Anhänger waren kosmopolitisch und sahen in der klassischen Antike, insbesondere im antiken Griechenland, ihre kulturellen Vorbilder. Letztere betonte die Leidenschaft, die Sehnsucht, das Unfertige und Unvollendete sowie die christliche Spiritualität; ihre Anhänger waren tendenziell nationalistisch (aber auch andererseits teilweise kosmopolitisch) und fanden ihre kulturellen Vorbilder vor allem in der gotischen und italienischen Kunst des Mittelalters und der Renaissance.

Der führende Verfechter und Vertreter des klassischen Stils im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts war der Dichter, Dramatiker und Romancier Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832). In den letzten Jahren seines Lebens führte Goethe eine Reihe von nachdenklichen Gesprächen mit Johann Peter Eckermann, seinem jungen Schützling. Eckermann zeichnete ihre Gespräche auf und veröffentlichte sie nach Goethes Tod. In der hier vorliegenden Auswahl bekräftigt Goethe die Gültigkeit seiner eigenen ästhetischen Vorstellungen und prangert die konkurrierenden Ideen der Romantiker an.

Es war vor allem der Schriftsteller und Literaturkritiker Friedrich Schlegel (1772–1829), der die Ideale der Romantik am deutlichsten artikulierte. Hier sind Auszüge aus drei seiner Werke zu lesen. Den Anfang machen Passagen aus den Athenäeum-Fragmenten (1798). Hier führte Schlegel den Begriff der romantischen Lyrik ein, die er als von Unvollständigkeit und Sehnsucht nach dem Unendlichen geprägt beschrieb. Es folgen Auszüge aus Grundlagen der gotischen Baukunst und Aufforderung an die Maler der jetzigen Zeit (beide 1803–04). In diesen Texten weist Schlegel auf zwei wesentliche Quellen der romantischen Sehnsucht nach dem Unbestimmten und Unendlichen hin: Die gotische Kunst und die wilde, unberührte Natur.

Die Unterschiede zwischen klassizistischen und romantischen Strömungen zeigen sich auch in der bildenden Kunst der Zeit, wie etwa in den romantischen Gemälden von Caspar David Friedrich (1774–1840) wie Der Wanderer über dem Nebelmeer (um 1818) oder Kreidefelsen auf Rügen (1818/19) oder Pilger im Felsental (um 1820) von Carl Gustav Carus (1789–1869). Einige Künstler, wie der Architekt und Maler Karl Friedrich Schinkel (1781–1841), konnten sowohl klassizistische als auch romantische Stile würdigen, wie in seinem Alten Museum in Berlin (1823–30) oder in seinem Gemälde einer imaginären gotischen Kathedrale (1811).

Es ist wichtig festzuhalten, dass Romantik und Klassizismus breite kulturelle Stile waren, deren Auswirkungen auf das Leben der Menschen weit über das rein Künstlerische hinausgingen, wie hier in einem zweiteiligen Dokument veranschaulicht wird: Ein Trostbrief des österreichischen Kanzlers Clemens Fürst von Metternich an den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. nach dem Tod von dessen Vater, König Friedrich Wilhelm III. und die Antwort Friedrich Wilhelms IV. Während Metternich ein begeisterter Anhänger des klassischen Stils war, war Friedrich Wilhelm IV. ein glühender Liebhaber der Romantik: Der Kontrast zwischen ihren beiden Schreibstilen ist aufschlussreich.

In den 1830er Jahren begann eine neue Gruppe mitteleuropäischer Autoren, den romantischen Kunststil zu kritisieren. Sie warfen ihren Anhängern vor, ästhetische Theorien zu benutzen, um politische, soziale und wirtschaftliche Unterdrückung zu verschleiern und zu verharmlosen, eine Ansicht, die in dem literarischen Manifest Aesthetische Feldzüge (1834) von Ludolf Wienbarg herausposaunt wurde. 1835 verboten die Behörden des Deutschen Bundes formell die Schriften dieser Autoren, die unter dem Namen „Junges Deutschland“ bekannt wurden. Der berühmteste Vertreter der Gruppe, der Dichter und Literaturkritiker Heinrich Heine (1796–1856), lebte zu dieser Zeit bereits im Pariser Exil. In seiner Schrift Die romantische Schule, die im folgenden Jahr erschien, erklärte Heine seinem französischen Publikum, warum das „Junge Deutschland“ den Romantikern kritisch gegenüberstand, lobte aber auch deren Bestrebungen.

Die Schriften des „Jungen Deutschland“ implizierten bereits einen Ruf nach einer realistischeren Kunst—einer Kunst, die danach strebte, das Leben so darzustellen, wie es tatsächlich war, nicht wie es nach verschiedenen Idealen sein sollte. Berthold Auerbach (1812–82) und Gustav Freytag (1816–95) waren zwei der führenden realistischen Romanautoren in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Als Antwort auf eine Rezension zu den Schwarzwälder Dorfgeschichten (1844), einer Sammlung von Kurzgeschichten, schrieb der deutsch-jüdische Auerbach, dass es seine Absicht gewesen sei, eine realistische, nicht idealisierte Darstellung des bäuerlichen Lebens in Südwestdeutschland zu schreiben. In einer 1853 in seiner liberalen Literaturzeitschrift Die Grenzboten veröffentlichten Besprechung verschiedener Romane stellte Freytag ein Programm für eine realistische Literatur vor. Der konservative Wilhelm Heinrich Riehl hingegen bezweifelte in Die bürgerliche Gesellschaft (1851), dass gebildete, bürgerliche Autoren genug über das bäuerliche Leben und die bäuerliche Kultur wüssten, um darüber realistische Romane zu schreiben.

Die Brüder Jacob (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859), Liberale und Romantiker, waren Sprachwissenschaftler und Volkskundler, die ihr Leben der Sammlung und Bewahrung der Volkskultur widmeten. Zu ihren Werken, sowohl einzeln und gemeinsam verfasst, gehörten Sammlungen von Sprichwörtern, Mythologie und ein umfangreiches mehrbändiges Wörterbuch der deutschen Sprache, das von ihnen begonnen, aber erst Jahrzehnte später von anderen Gelehrten vervollständigt wurde. Am bekanntesten sind die Brüder Grimm natürlich für ihre Sammlung von Märchen. Im Vorwort zur zweiten Auflage ihrer Sammlung von 1819 beschreiben die Grimms die Merkmale der Volkskultur und grenzen sie scharf von der elitären, literarischen und gelehrten Kultur ab. Die Volkskultur sei demnach traditionell, weitgehend unverändert über die Jahrhunderte hinweg und tatsächlich ein Schlüssel zum ursprünglichen Charakter einer Nation. Sie wurde vom einfachen, fast kindlichen, gewöhnlichen Volk, insbesondere den Bauern, mündlich weitergegeben. Mit dem Fortschritt der Bildung, des städtischen Lebens und der Hochkultur—geschrieben, komplex, sich verändernd und das Produkt der gebildeten Klassen—drohte die Volkskultur in Vergessenheit zu geraten. Die Aufgabe gelehrter Kritiker, wie der Brüder Grimm selbst, bestehe nicht darin, die Volkskultur zu kritisieren oder gar genauer zu untersuchen (einige der Geschichten, die sie als authentische deutsche Volksmärchen bezeichneten, stammten in Wirklichkeit von französischen Schriftstellern aus dem siebzehnten Jahrhundert), sondern sie zu sammeln, vor dem Vergessen zu bewahren und zu würdigen, ähnlich der Begeisterung der Romantiker für die Natur und das Mittelalter. Wie der Briefwechsel zwischen Jacob Grimm und dem slowenischen Philologen und Kulturerneuerer Jernej Kopitar zeigt, die Aufgabe, solche Volkskulturen zu bewahren und zu verbreiten entwickelte auch kosmopolitische Dimensionen über nationale Grenzen hinaus.

11. Wissenschaft und Bildung

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es im deutschen Geistesleben starke Elemente, die aus der kulturellen Tradition des Klassizismus und der philosophischen des Idealismus stammten und die für die Einheit aller systematischen Erkenntnis plädierten. Der wohl prominenteste Verfechter solcher Ideen war der Philosoph G. W. F. Hegel (1770–1831). Seine Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse von 1817, aus der hier ein Auszug wiedergegeben wird, war eine Art Kurzdarstellung der Einheit solchen Wissens. Hegels verschlungene Prosa ist notorisch schwer zu verstehen, aber man beachte Hegels Argument, dass die Philosophie—weil sie sich mit der Bildung und Definition von Begriffen befasst—der Hauptzweig des Wissens sei. Hegel entwickelte grundlegende Ideen der Physik und Biologie aus philosophischen Konzepten und scheute sich nicht, Isaac Newtons Theorien der Physik auf der Grundlage seiner Philosophie zu kritisieren.

Hegel schloss das, was wir heute Geistes- und Sozialwissenschaften nennen würden, in seine Einheit allen Wissens ein. In einem Auszug aus seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, gehalten in den 1820er Jahren, als er Professor an der Universität Berlin war, erklärt Hegel, dass der Sinn der menschlichen Geschichte der Fortschritt des philosophischen Begriffs der Freiheit sei.

Alexander von Humboldt (1769–1858) war ein Naturforscher und Entdecker, dessen berühmte Expedition nach Südamerika von 1799 bis 1804 eine lebenslange wissenschaftliche Beschäftigung mit der Botanik und Naturgeschichte nach sich zog. Gegen Ende seines Lebens, zwischen 1845 und 1858, schrieb Humboldt das mehrbändige Werk Kosmos, in dem er versuchte, die Einheit aller wissenschaftlichen und gelehrten Erkenntnisse zu artikulieren und ihre Verbindungen zu den menschlichen Leidenschaften und Wünschen, aber auch zur praktischen Technik und Wirtschaft aufzuzeigen.

Humboldts Versuch, die Einheit des Wissens zu artikulieren, war eines der letzten Beispiele für ein solches klassizistisches und idealistisches Bemühen. Bereits in den 1820er Jahren zeichnete sich eine ganz andere Haltung ab, die nach der Mitte des 19. Jahrhunderts unter deutschen Gelehrten und Wissenschaftlern dominant werden sollte. Der Physiker Hermann von Helmholtz (1821–94), der den Energieerhaltungssatz formulierte, lehnte in einer Rede, die er 1862 bei seiner Berufung zum Prorektor der Universität Heidelberg hielt, Hegels Ideal einer philosophischen Einheit der Erkenntnis ausdrücklich ab. Vielmehr zog er klare begriffliche und erkenntnistheoretische Trennlinien zwischen den Naturwissenschaften einerseits und den Geistes- und Sozialwissenschaften andererseits.

Nicht nur die deutschen Naturwissenschaftler monierten die idealistische Konzeption der Einheit der Erkenntnis, sondern auch die Geisteswissenschaftler. Der Historiker Leopold von Ranke (1795–1886) lehnte Hegels Ansatz, die Geschichte der Menschheit als Fortschritt der philosophischen Begriffe zu betrachten, entschieden ab. Vielmehr betonte Ranke, wie aus den hier wiedergegebenen Auszügen—der Einleitung zu seinem 1825 erschienenen Buch Die Geschichte der romanischen und germanischen Völker, seinen Notizen aus den 1830er Jahren über Geschichte und Philosophie und seinen Vorlesungen zur Weltgeschichte von 1854—hervorgeht, die Bedeutung eines genauen Verständnisses historischer Ereignisse auf der Grundlage eines intensiven und kritischen Studiums veröffentlichter und unveröffentlichter Primärquellen. Ranke leugnete nicht, dass es allgemeine Themen gab, die aus dem Studium der Geschichte ersichtlich werden konnten, aber er glaubte, dass solche Themen aus der empirischen Analyse des Historikers hervorgingen und nicht aus philosophischen Vorannahmen. Ranke zeigte sich zudem skeptisch gegenüber der Vorstellung, dass die Geschichte Ausdruck irgendeiner Form von kontinuierlichem Fortschritt sei, sei er nun begrifflich oder anderweitig.

Während sich die Gelehrten über die Bedeutung fortgeschrittener Wissensformen stritten, war eine ganz andere Kontroverse über die Grundbildung im Gange. Eine Tendenz in dieser Kontroverse wurde von Friedrich August Ludwig von der Marwitz (1777–1837) vertreten, einem adligen Gutsbesitzer in der Provinz Brandenburg im Königreich Preußen, der das Modell eines Reaktionärs des 19. Jahrhunderts war. Als die preußische Regierung im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts die Befreiung der Leibeigenen in Angriff nahm, widersetzte sich Marwitz dem so vehement, dass der frustrierte preußische Kanzler von Hardenberg ihn inhaftieren ließ. Marwitz widersetzte sich auch den gleichzeitigen Bildungsreformen, welche die Volksschulbildung und Grundalphabetisierung in allen Gesellschaftsschichten zu verbreiten begannen. In seiner Denkschrift über Verbrechen und Sittenverfall von 1836 legte Marwitz in leicht überspitzter Form die konservative Auffassung des 19. Jahrhunderts dar, dass die öffentliche Volksschulbildung für die unteren Klassen in erster Linie darin bestehen sollte, den Kindern die Grundlagen von Religion und Moral beizubringen. Weiterer Unterricht, ob in den Grundkenntnissen wie lesen, schreiben und rechnen oder in fortgeschritteneren Fächern, würde das gemeine Volk nur moralisch und wirtschaftlich ruinieren.

Friedrich Adolph Diesterweg (1790–1866) war ein Gymnasiallehrer und prominenter Verfechter einer fortschrittlichen Pädagogik, laut der die Schüler eine Vielzahl von Themen durch selbständiges Erforschen lernen sollten. Als produktiver Autor, der von vielen deutschen Lehrern als Held verehrt wurde (und auch heute noch wird), war Diesterweg von 1832 bis 1847 Direktor des Lehrerseminars in Berlin, wo er aufgrund von konservativem politischem Druck entlassen wurde. Diesterwegs Aufsatz „Pädagogisches Krebsbüchlein“ aus dem Jahr 1856 verdankt seinen komisch klingenden Titel der Tatsache, dass Krebse sich rückwärts bewegen und somit im 19. Jahrhundert ein Beiname für Reaktionäre waren, also für Menschen, die Gesellschaft und Politik in die Vergangenheit zurückversetzen wollten. In diesem Essay griff Diesterweg die Feinde der fortschrittlichen Pädagogik an: Anhänger des sturen Auswendiglernens, Befürworter der Religion als primäres Unterrichtsfach in den öffentlichen Schulen, Anhänger der Unterordnung der Schullehrer unter den Klerus und ganz allgemein diejenigen, die Schullehrer in einem niedrigen sozialen Status halten wollten.

12. Über Deutschlands Grenzen hinaus

Die „Verwandlung der Welt“ (Jürgen Osterhammel) im 19. Jahrhundert beinhaltete unter anderem einen weiteren Schritt im Prozess der Globalisierung und eine oder mehrere Revolutionen im Transport- und Kommunikationswesen. In dieser Transformation waren die Bewohner deutscher Länder genauso oder eher als die anderer europäischer Länder in anderen Teilen Europas oder der Welt auf Reisen und zu Hause. Der Deutsche Bund und seine Mitglieder hatten bekanntlich keine Kolonien oder überseeische Reiche wie die Briten, die Franzosen und sogar die Dänen und Holländer. Dennoch fanden die Deutschen in den ersten sieben Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts viele Wege, Verbindungen in Europa und der Welt zu knüpfen. Als Kaufleute und Missionare, als Auswanderer und Exilanten, als Reiseschriftsteller und wissenschaftliche Entdecker machten Deutschsprachige aus Mitteleuropa rund um den Globus Karriere und bauten sich ein neues Leben auf, oft im Dienst der Reiche anderer Nationen. Der bereits erwähnte Fall des Forstbeamten Dietrich Brandis, der in Britisch-Südasien arbeitete, um die Vorteile der deutschen Forstwissenschaft in das britische Kolonialreich zu bringen, war keineswegs außergewöhnlich. Figuren aus dem 18. Jahrhundert wie der Reisende Carsten Niebuhr im Nahen Osten, Georg und Johann Reinhold Forster im Pazifik mit Kapitän Cook und die Tausenden von religiösen Migranten und hessischen Soldaten in Nordamerika könnten bezeugen, dass diese Trends und Karrierewege nicht neu waren, doch stieg im neunzehnten Jahrhundert die Zahl der Deutschen, die ihren Weg ins Ausland machten, erheblich an. Millionen Deutschsprachige suchten ihre Chance in Europa und vor allem in Übersee.

Für wissenschaftliche Reisende, Kaufleute und Missionare war es typisch, dass sie bei ihren Aktivitäten im Ausland Unterstützung durch die Reiche anderer Nationen benötigten. Jemand wie Alexander von Humboldt, der in der Lage war, seine Reisen durch Spanisch-Amerika selbst zu finanzieren, war ungewöhnlich, und selbst er war immer noch auf Verbindungen, Genehmigungen und Beistand von Beamten und Untertanen in Spanien und dem spanischen Reich angewiesen, um so viele Provinzen zu bereisen und so viele Orte zu besuchen und Informationen und Hilfe von so vielen Personen dort zu erhalten. Im hier vorgestellten Beispiel einer Humboldt‘schen Erkundungsreise wurde dem damals weltberühmten Humboldt durch die Einladung des Zaren Nikolaus I. und die Vermittlung des deutschstämmigen russischen Finanzministers Graf Georg von Cancrin die Erlaubnis erteilt, die eurasischen Grenzgebiete des Russischen Reiches zu erforschen. Doch wie das Dokument zeigt, schützte ihn selbst sein Ruhm nicht davor, auf Einschränkungen dessen zu stoßen, was er sehen oder worüber er schreiben durfte, und die gewonnenen Erkenntnisse kamen dem Russischen Reich ebenso zugute wie der wissenschaftlichen Gemeinschaft oder den Karrieren von Humboldt und seinen Mitreisenden.

Das Russische Reich ermöglichte auch die wissenschaftliche Reise des französischen Emigranten, preußischen Botanikers und romantischen Schriftstellers Adelbert von Chamisso (1781–1838), als er sich der Expedition des russischen Marinekapitäns Otto von Kotzebue auf einer Weltumsegelung anschloss, die sich insbesondere auf die imperiale Erforschung des Süd- und Nordpazifiks konzentrierte. Chamisso diente auf der Reise als Naturforscher und konnte eine umfangreiche Sammlung von Pflanzen und anderen naturhistorisch interessanten Objekten anlegen, die ihm zurück in Europa weiterhelfen konnte. Er beteiligte sich damit auch an der Katalogisierung der Ressourcen des neu erschlossenen Landes und an ersten Begegnungen mit den Bewohnern mehrerer pazifischer Inseln. In dem hier auszugsweise wiedergegebenen Reisebericht würdigte Chamisso die Bedeutung indigener Informanten und Vermittler für seine Reisen und Forschungen, wie zum Beispiel von Kadu von der Ratak-Inselgruppe, der die Expedition für einige Monate begleitete und ihm freundschaftlich verbunden war. Die Spannungen zwischen imperialistischer Ausbeutung anderer Länder und kosmopolitischer Offenheit gegenüber neuen Völkern und Lebensweisen treten in Chamissos Schilderung deutlich hervor—Spannungen, die sich wie ein roter Faden durch viele Schriften der in dieser Zeit weltweit tätigen Deutschen ziehen.

Vermögensstand, soziale Herkunft und selbst Geschlecht sollten sich nicht unbedingt als Hindernisse dabei erweisen, wissenschaftliche und berufliche Möglichkeiten im Ausland zu verfolgen. Die bürgerliche Wienerin Ida Pfeiffer (1797–1858) war als Reiseschriftstellerin und Naturforscherin in dieser Zeit sicher untypisch, aber nicht einzigartig. Während ihre früheren Reisen in erster Linie der Materialsammlung für Reiseschriften und der Befriedigung der Sehnsucht nach neuen Orten dienten, unter anderem mit dem hier wiedergegebenen Auszug über Brasilien von ihrer ersten Weltreise, erfüllte Pfeiffer zur Zeit ihrer zweiten Weltumsegelung die Mission einer wissenschaftlichen Naturforscherin und Entdeckerin, insbesondere beim Vordringen in den Dschungel von Borneo. Der österreichische Maler Thomas Ender (1793–1875), obwohl aus bescheideneren Verhältnissen stammend, konnte seine Karriere ebenfalls durch die Darstellung der exotischen Menschen und Landschaften Brasiliens vorantreiben, hatte es aber leichter, da er als Protegé des österreichischen Kanzlers Fürst Metternich im Gefolge der Erzherzogin Leopoldine zur Zeit ihrer Hochzeit mit dem Kronprinzen von Portugal und Brasilien 1817 in Rio de Janeiro reiste. Damals nutzten die Österreicher die Gelegenheit, eine Gruppe von Forschern, Naturkundlern und Künstlern in die Hochzeitsgesellschaft auf dem Weg nach Brasilien aufzunehmen.

Eine größere und noch einflussreichere Kategorie von Deutschen, die im Vormärz zu fremden Ufern strebten, waren die Missionare, sowohl katholische als auch evangelische. Auch sie mussten ihre Arbeit in den Territorien anderer Mächte verrichten und die notwendigen Verbindungen herstellen, um ihre Tätigkeit zu ermöglichen und zu fördern. Mehrere neue deutsche Missionsgesellschaften konkurrierten in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts um Einfluss, wie z. B. die Rheinische Missionsgesellschaft, die Norddeutsche Missionsgesellschaft und die sogenannte Berliner Missionsgesellschaft. Auch die Basler Missionsgesellschaft in der Schweiz und die britischen Missionsgesellschaften, die mit den Anglikanern, Methodisten, Baptisten und anderen Konfessionen verbunden waren, arbeiteten in denselben Gebieten. Die deutschen Gruppen konkurrierten manchmal mit diesen anderen Organisationen, manchmal kooperierten sie mit ihnen, und manchmal arbeiteten deutsche Missionare sogar direkt für die ausländischen Gesellschaften, wie zum Beispiel Johann Ludwig Krapf und Johannes Rebmann in Ostafrika. Beide waren in Württemberg geboren, begannen ihre Ausbildung in Basel und arbeiteten anschließend für die Anglikanische Missionsgesellschaft. Krapf und Rebmann zeigen auch, wie sehr sich missionarische Tätigkeit mit geographischer, ethnographischer und sprachlicher Erforschung überschneiden konnte, da sie als erste Europäer in das Innere Ostafrikas vordrangen und 1848/49 die schneebedeckten Äquatorialgipfel des Kilimandscharo und des Kenia sahen sowie Studien über afrikanische Sprachen veröffentlichten.

Wie die vorliegenden Dokumente zeigen, gelten viele der breiteren historischen Debatten über den Einfluss der Missionare in der Welt auch für den deutschen Fall, und zwar schon vor dem Erwerb von Kolonien durch das Deutsche Kaiserreich in den 1880er Jahren und danach. Inwieweit trugen beispielsweise die Bemühungen der Missionare, das Christentum und die „Zivilisation“ unter Nichteuropäern zu verbreiten, zum europäischen Imperialismus und Kolonialismus in Übersee bei? Die Schilderung der Aktivitäten der Rheinischen Missionsgesellschaft im Land der Herero und Nama etwa verdeutlicht zunächst, wie die deutschen Missionare über britische Beamte und niederländische und britische Siedler im südwestlichen Afrika sowie über lokale Herero- und Nama-Häuptlinge arbeiten mussten. Es ist jedoch kein Zufall, dass ausgerechnet in dieser Region der Prozess der informellen und später formellen Kolonisierung durch deutsche Händler nach der Reichsgründung begann. Die Bemühungen der Rheinischen Missionsgesellschaft und der Norddeutschen Missionsgesellschaft, Nischen für Missionen in der niederländisch-ostindischen Besitzung Borneo bzw. in Südasien und Neuseeland innerhalb des Britischen Empire zu finden, führten zwar nicht zu einer späteren Kolonisierung, beleuchten aber in ähnlicher Weise die Bedeutung der Zusammenarbeit mit lokalen Autoritätspersonen sowie mit Beamten fremder Reiche. Alle diese Fälle werfen auch ein Schlaglicht auf eine grundlegende Spannung zwischen den Ansprüchen des christlichen und westlichen Universalismus und dem Wunsch, den Wert des Pluralismus und der indigenen Souveränität in der heutigen multikulturellen Gesellschaft anzuerkennen. Die Tatsache, dass Missionare ihre gemeinsame Menschlichkeit mit fremden Völkern anerkennen, sowie ihr Wunsch, Bildung und humanitäre Hilfe auszuweiten, mag sie im Vergleich zu den Verteidigern des Sklavenhandels oder denen, die nur darauf bedacht waren, neue Besitztümer in anderen Teilen der Welt zu erobern oder anderweitig auszubeuten, ziemlich fortschrittlich erscheinen lassen. Gleichzeitig versuchten Missionare jedoch häufig in ihrem Bemühen, das Christentum zu verbreiten, einheimische Kulturen auszurotten, anstatt sie zu respektieren oder zu bewahren und vertraten rassistische Ansichten und Stereotypen. Missionare hatten, wie oben erwähnt, manchmal das Ziel, ethnographisches Wissen anderer Völker zu entdecken und zu bewahren, aber oft nur, um dieses Wissen für die westliche Nachwelt zu retten, sobald die christliche und westliche Kultur die Oberhand gewonnen hatte und die einheimische Kultur unterdrückt worden war. Die Nutzung der frühen Fotografie von den Missionaren, wie hier gezeigt, wirft ähnliche Fragen und Widersprüche auf. Die Fotos sollten Kenntnisse fremder Gebräuche bewahren und gleichzeitig ein Gefühl emotionaler Verbundenheit zwischen dem afrikanischen Klientel der Missionare und den Spendern in Europa aufbauen, genauso sehr vermittelten sie aber dem zeigenössischen europäischen Publikum auch ein Gefühl humanitärer Überlegenheit.

Obwohl sie nicht die Vorteile überseeischer Territorien oder großer Flotten zur Unterstützung ihres Handels genossen, suchten auch Kaufleute und Händler aus den deutschen Territorien nach Profitmöglichkeiten in Europa und rund um die Welt. Selbst für Missionare bestand eine der Attraktionen Neuseelands als Standort für eine Missionsstation in den bereits bestehenden Verbindungen mit dem Gebiet durch die Walfangschiffe aus Bremen, die in den südpazifischen Gewässern um Neuseeland jagten. Deutsche und andere Kaufleute unterstützten zudem gelegentlich Naturforscher und Reisende, wenn diese ferne Länder durchquerten. Wirtschaftliche Verbindungen bildeten also einen Teil des Rahmens für die Präsenz der Deutschen im Ausland im Allgemeinen.

Das Nichtvorhandensein einer Flotte konnte zeitweise ein erhebliches Problem darstellen, wie in den Jahren nach 1815, als die Beziehungen zu den nordafrikanischen Regentschaften oder den sogenannten Barbaresken-Korsaren aus Algier, Tunis und Tripolis erneut schwierig wurden. Die Zahl der gekaperten europäischen Schiffe und der für Lösegeld und/oder Zwangsarbeit gefangen gehaltenen Personen war nicht annähernd so groß wie im siebzehnten oder achtzehnten Jahrhundert, aber das Problem verschärfte sich eher, als dass es sich mit der Rückkehr des Friedens 1814 verbesserte. Die meisten Angriffe auf italienische und deutsche Schiffe und Untertanen fanden im Mittelmeer statt, doch verbreiteten Korsarenüberfälle in der Nordsee 1817 Angst im gesamten Deutschen Bund. Die Delegierten der norddeutschen Handelsstädte Lübeck und Bremen setzten sich auf dem Wiener Kongress 1814/15 bei den See- und anderen Mächten für ein Vorgehen gegen die Korsaren ein, direkt und über die Presse, wie in dem hier auszugsweise wiedergegebenen Buch des Lübecker Gymnasiallehrers und Publizisten Friedrich Herrmann (1775–1819). Die Aufrufe zu Angriffen auf die Regentschaften mischten sich mit anti-islamischen Stereotypen von orientalischer Despotie und Barbarei, ohne jedoch die Offenheit gegenüber fremden Ländern und Völkern, welche die Deutschen zu dieser Zeit noch auszeichnete, völlig auszulöschen. Während die Lobbyarbeit in Wien erfolglos blieb, trugen anhaltender Druck—und fortgesetzte Überfälle—schließlich dazu bei, dass Großbritannien und andere Mächte mit diplomatischem Druck und schließlich mit Gewalt reagierten, wie mit der anglo-holländischen Bombardierung von Algier im August 1816. Doch auch das beendete das Problem nicht, wie die erneuten Überfälle—und die erneute Lobbyarbeit gegen die Korsaren—im Jahr 1817 bezeugten.

Bremer Kaufleute und Politiker waren in den 1840er Jahren auch daran beteiligt, die europäische Seite einer neuen Postdampferroute aus den Vereinigten Staaten von Amerika zu sichern, die von der US-Regierung subventioniert werden sollte, da beide Seiten bestrebt waren, mit den britischen Gesellschaften zu konkurrieren, die den Handel bis dahin kontrolliert hatten. Johann Ludwig Tellkampf (1808–1876), Professor für Politische Ökonomie an Columbia College in New York und dann später an der Universität Breslau/Wrocław in Preußen, berichtet, wie er und Persönlichkeiten aus Bremen und der deutsch-amerikanischen Kaufmannschaft bei den US-Beamten darauf hinwirkten, dass der neu gebaute Hafen von Bremerhaven den Zuschlag erhielt, was schließlich auch gelang. Tellkampfs Bericht macht ebenfalls deutlich, wie tief die zeitgenössischen Fortschrittsvorstellungen mit der Globalisierung von Kommunikation und Handel verbunden waren.

Zum Anstieg der Brief- und Warenladungen in einer sich globalisierenden Welt trugen auch die immer zahlreicheren deutschen Auswanderer bei, die in den Jahrzehnten nach 1815 auf Dampfern und Segelschiffen den Atlantik überquerten. Sie zogen vor allem in die Vereinigten Staaten von Amerika, andere suchten Chancen in Südamerika und der Karibik oder in Osteuropa und anderswo. Die Auswanderung begann bereits nach 1830 zu expandieren, aber vor allem ab Mitte der 1840er Jahre stiegen die Zahlen an, mit einem massiven Anstieg nach der Revolution von 1848/49. In diesen Jahren verließen pro Jahr mehr als sechzigtausend und bis zu über zweihunderttausend Auswanderer Deutschland, insgesamt 1,3 Millionen zwischen 1845 und 1858, von denen die meisten in den Vereinigten Staaten ankamen. Eine weitere enorme Auswanderungswelle verließ Deutschland in der Dekade ab 1864, am Ende unseres Zeitraums, gefolgt von einer weiteren in den 1880er Jahren. Bis 1914 hatten sich insgesamt mehr als vier Millionen Menschen dazu entschlossen, auszuwandern und anderswo ein neues Leben zu beginnen.

Die Auswahl der Briefe von Auswanderern an ihre Familien in der Heimat soll einen Eindruck von den Erfahrungen der deutschen Einwanderer in städtischen Gebieten wie New York City und in den ländlichen Gebieten der USA im mittleren Westen vermitteln. Die Briefe offenbaren auch die unterschiedlichen Herausforderungen und Erfahrungen, mit denen männliche und weibliche Auswanderer während des einschneidenden Übergangs konfrontiert waren. Im Gegensatz zu der Tendenz einiger Migranten, wie z.B. derjenigen aus Italien im späteren 19. Jahrhundert, mit der Absicht zu gehen, einige Jahre zu bleiben, um Ersparnisse anzuhäufen und dann in ihr Heimatland zurückzukehren, planten die meisten Deutschen die auswanderten, sich dauerhaft in Übersee niederzulassen. Die Briefe heben auch das Phänomen der Kettenmigration hervor, da die Personen, die den Übergang zuerst vollzogen hatten, dann Informationen oder sogar Geldmittel weitergeben konnten, um es Familienmitgliedern oder Nachbarn zu ermöglichen, den Sprung mit etwas größerer Sicherheit zu vollziehen und sich oft in denselben Gebieten niederzulassen.

Das Ausmaß und die Erfahrungen der deutschen Auswanderung hinterließen bei den in Deutschland verbliebenen Zeitgenossen ebenso einen starken Eindruck wie bei denen, die auswanderten. Die Emotionen derjenigen, welche die Entscheidung getroffen hatten, ein neues Leben in Übersee zu beginnen, wurden von der preußischen Malerin Antonie Volkmar (1827–1903) in ihrer Darstellung einer Mehrgenerationenfamilie, die zu einem Schiff hinausgerudert wird, das sie in die Neue Welt bringen soll, ergreifend eingefangen. Debatten über die Lebensbedingungen der Auswanderer und darüber, ob die Auswanderung ein Gewinn oder ein Verlust für die deutsche Nation war, gab es zum Beispiel im Frankfurter Parlament während der Revolution von 1848. Die einen waren der Meinung, dass eine verstärkte deutsche Präsenz in Übersee für Deutschland nur von Vorteil sein könnte, während andere argumentierten, dass es besser wäre, die Auswanderung nach Osteuropa, in die habsburgischen Länder oder andere Regionen zu fördern, wenn es überhaupt zur Auswanderung kommen musste, da dies die Position der deutschsprachigen Völker in Europa stärken würde.

Die Diskussion über die Politik und die Deutschen jenseits der deutschen Grenzen schließt den Kreis mit den Erfahrungen der deutschen Exilanten in der Zeit von 1815–66. Damals wie heute überschneiden sich die Kategorien der Wirtschaftsmigranten und der politischen Exilanten oder Flüchtlinge zeitweise, doch viele Bewohner deutscher Staaten wurden entweder gezwungen oder entschieden sich, ihre Heimatstaaten aufgrund ihrer radikalen oder oppositionellen Politik zu verlassen. Manchmal konnte ein Umzug in einen anderen deutschen Staat ausreichen, um einer Bestrafung zu entgehen und neu anzufangen (wie bei einigen der sieben Professoren der Universität Göttingen, die ihre Stellen verloren, nachdem sie 1837 gegen die Aufhebung der hannoverschen Verfassung protestiert hatten, und die schließlich Stellen in Preußen erhielten, darunter die Brüder Grimm und Friedrich Dahlmann), aber für viele bedeutete es, in fremden Ländern wie Frankreich und Großbritannien oder sogar außerhalb Europas in Ländern wie den Vereinigten Staaten Asyl zu suchen. So beherbergten Paris und London über viele Jahre hinweg den Kommunisten Karl Marx in verschiedenen Lebensabschnitten. Auch der radikale Journalist Ludwig Börne (1786–1837) begab sich nach den Revolutionen von 1830 nach Paris, um von dort aus die revolutionäre Politik zu beobachten sowie bissige Satiren und Kritik an den politischen und sozialen Verhältnissen in den deutschen Staaten zu üben. Der Schriftsteller und ehemalige Frankfurter Parlamentarier und Barrikadenkämpfer Julius Fröbel (1805–1893) musste nach dem Scheitern der Revolutionen von 1848/49 in die Vereinigten Staaten fliehen. Wie Fröbels Briefe zeigen, verkehrte er dort in der deutsch-amerikanischen Gemeinschaft, versuchte mit gemischtem Erfolg, Geschäfte zu gründen, und spekulierte über die Möglichkeiten einer Rückkehr nach Mitteleuropa. Viele andere der sogenannten Achtundvierziger blieben dauerhaft in den Vereinigten Staaten, wie etwa der spätere Politiker Carl Schurz. Das Leben von politischen Exilanten wie von Immigranten konnte sehr hart sein, aber sie waren auch oft in der Lage, Chancen innerhalb einer sich globalisierenden Welt zu nutzen, um ihre Karrieren in ihren neuen Ländern oder zurück in Deutschland aufzubauen, oder zumindest der Verfolgung und Bestrafung zu entgehen.

Jonathan Sperber und Brian Vick
Übersetzung: Katharina Böhmer und Insa Kummer